BIBLIOGRAPHIE
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001:zeiterfahrung
Selbsterfahrung als arbeit an der vergangenheit
(1994/2001) / absätze: *abs.:001-041*
referat; gehalten auf der tagung:
Nietzsche 150: Kultur nach dem Nihilismus.
Paris. 13.-15.10.1994.
(text orthographisch überarbeitet: 01.06.06.)

  stichworte: //  abstract:  //  übersicht  //  text  //  register               <--//


stichworte:

arbeit/-->begriff
wahrheit/historische
zeit/-->begriff
zeiterfahrung                                      <--//

abstract:

der text verknüpft zwei kernfragen der abendländischen philosophie: die prekären historischen wahrheiten und die zeiterfahrung des ich. Jede historische wahrheit ist in der zeiterfahrung des ich als resultat seiner arbeit eine konstruktion dieses ich. Seine zeit lebt das ich allein im moment der gegenwart, in der es sich der facta der vergangenheit und der projektionen in die zukunft erinnert. In diesem dialektisch strukturierten prozess der drei zeitmodi: gegenwart, vergangenheit und zukunft, konstruiert das ich seine historischen wahrheiten. Die praktischen probleme der kommunikation über diese wahrheiten werden in der these der geltung einer historischen wahrheit angedeutet.      <--//

übersicht:

1. exposition des problems
2. die prämissen.
3. argument 1: die struktur der zeit
4. argument 2: die dialektik der zeiterfahrung
5. argument 3: die geltung einer wahrheit
6. folgerung aus den argumenten 1-3              <--//

text:

Selbsterfahrung als arbeit an der vergangenheit

Der gegenstand dieses textes(*) ist die selbsterfahrung als arbeit an der vergangenheit. Arbeit begreife Ich als die aktive transformation der eigenen biographie mit dem ziel, eine vergangenheit zu konstruieren, die mir ein humanes leben ermöglicht. /*abs.:001*
 

1. exposition des problems

Eine neue wahrheit, die die welt erschüttern wird, habe Ich nicht vorzutragen; denn in der philosophie gibt es keine neuen wahrheiten; es werden immer nur die alten fragen der menschen in der zeit neu aufgeworfen und von den individuen in ihrer zeit beantwortet, um sich selbst in ihrer welt zu verstehen. Damit bin Ich schon mitten in dem problem, das Ich(1) aus meiner sicht der dinge in wenigen strichen skizzieren will. /*abs.:002*

Was ereignet sich tatsächlich(2), wenn Ich eine philosophische frage, die weit in die historische vergangenheit zurückverfolgt werden kann, hier und heute, in diesem moment der zeit, wieder formuliere und wenn Ich versuche, eine antwort zu geben, die nicht nur mich im vollzug meines lebens und meiner selbstverständigung in dieser welt befriedigen kann, sondern die auch dem bedürfnis nach historischer wahrheit genügt, die mich mit den anderen verbindet, mit denen Ich als individuum in einer gemeinschaft leben muss? Zu offensichtlich ist im konkreten fall die differenz zwischen der antwort von damals, wenn sie in einem gültigen zeichensystem dokumentiert vorliegt, und der antwort, die Ich heute für mich gebe und die Ich an die anderen richte. Einem ondit zufolge ist die wahrheit unteilbar. Dem steht aber die erfahrung entgegen, dass die wahrheit, die historische zumal, nicht nur nicht teilbar ist unter den individuen, die an ihr interessiert sind, sondern auch beliebig verbiegbar ist, wenn das jeweils herrschende interesse das für opportun hält. In seiner schrift "Jenseits von Gut und Böse" hat Nietzsche unter der nummer.68 präzis den gedanken formuliert, dass nicht das in der vergangenheit geschehene mein bild von der vergangenheit bestimmt, sondern mein bedürfnis, die vergangenheit so zu sehen, dass sie mit meinen aktuellen interessen zusammenpasst. ""Das habe ich getan", sagt mein Gedächtnis. "Das kann ich nicht getan haben" - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."" /abs.:003*
 

2. die prämissen.

Die begrenzung der verfügbaren zeit nötigt mich zu folgendem verfahren. Zunächst formuliere Ich zwei prämissen, die allein aus zeitgründen nicht erörtert werden. Sie sind die voraussetzung für meine these, die Ich in drei argumenten und einer folgerung entwickeln und begründen werde. /abs.:004*

Die erste prämisse lautet:
die frage nach dem ersten oder letzten grund der welt eines individuums ist theoretisch nicht entscheidbar; praktisch aber wird diese frage von jedem individuum im vollzug seines lebens durch setzungen in der gestalt von glaubensüberzeugungen, die keinem zweifel mehr zugängig sein können, entschieden(1). Diese setzungen sind nur für das setzende individuum absolut gültig einschliesslich derjenigen, die sich dieser setzungen aus eigenem wollen anschliessen. /abs.:005*

Die zweite prämisse lautet:
was die zeit als zeit ist, kann, da sie die bedingung der zeiterfahrung ist, theoretisch nicht definiert werden. Aus praktischen erfordernissen gibt es nur unterschiedliche vorstellungen von dem, was die zeit in der erfahrung der individuen ist. Diese vorstellungen sind für alle individuen verbindlich, die diese vorstellungen nicht in frage stellen.
/abs.:006*
 

3. argument 1: die struktur der zeit

Die Zeit ereignet sich allein im moment der unmittelbar gelebten gegenwart, im augenblick des hier und jetzt. Weder gibt es eine zeit, die vergangen ist, noch eine zeit, die künftig erst sein wird. Mit der traditionellen zeitvorstellung, die drei formen der zeiterfahrung unterscheidet, nämlich eine zeit als gegenwart, eine zeit als vergangenheit und eine zeit als zukunft, die unauflösbar als diskrete punkte auf einer imaginären skala fortlaufend aneinander gekoppelt sind, scheint meine behauptung nicht vereinbar zu sein; das ist aber nicht der fall; denn die zeit als vergangenheit und die zeit als zukunft sind dem individuum immer nur unter der bedingung des hier und jetzt der gelebten gegenwart präsent. In dieser gegenwart ereignen sich die situationen, die jedes individuum unmittelbar physisch und psychisch wahrnimmt, und die, wenn sie sich ereignet haben, zu fakten geronnen sind, die nach der traditionellen ansicht in die vergangenheit absinken und dort, jeder weiteren manipulation entzogen, bis in alle ewigkeiten, wie man sagt, fortdauern. /abs.:007*

Nicht anders verhält es sich mit der zukunft, die in sich ein geschehen trägt, das mit der fortschreitenden zeit sich entfaltet, bis es in der angekommenen gegenwart verzehrt wird und als faktum in die vergangenheit unwiederholbar absinkt. Ich beschränke mich im weiteren nur noch auf den aspekt der vergangenheit(1). /abs.:008*

Allein die gegenwart kann der ort(2) sein, an dem das individuum seine zeit erfährt; denn hier ereignet sich das leben, der stoffwechsel eines individuums mit seiner natur, und die produkte dieses stoffwechsels sind die gegenstände seiner welt, die der rohstoff für sein leben sind. /abs.:009*

Wie das leben so sind die produkte dieses stoffwechsels in ihrer konkreten gestalt unwiederholbar; sie entstehen im prozess des stoffwechsels immer wieder von neuem, und das argument der identität ist auf sie nicht anwendbar. Auch wenn diese produkte, eins wie das andere, gleich zu sein scheinen, so sind sie dennoch faktisch jeweils andere. Ereignisse, die als fakten in die vergangenheit abgesunken waren(3), werden, wenn sie von der erinnerung eines individuums in die gegenwart  -und damit in die zeit- zurückgeholt werden, im prozess des erinnerns, notwendig verändert, transformiert, und sie sinken als andere wieder in die vergangenheit ab. /abs.:010*

Die erinnerung an ein glück, das seine zeit gehabt hatte und dann in die vergangenheit abgesunken war, wird niemals die gegenwart restaurieren können, die jenes glück ereignis werden liess; möglich ist allein, dass das individuum im akt des erinnerns ein neues glück erlebt, das auch in die vergangenheit absinken muss. /abs.:011*

Der stoffwechsel der natur ist, in einem bild ausgedrückt, die blosse aneinanderreihung von zuständen, die zueinander prinzipiell etwas anderes sind. Daher kann das leben eines individuums niemals sich wiederholen(4); in jedem moment seiner existenz bildet es sich von neuem, und was aus der gegenwart in die vergangenheit abgesunken ist, das kann nicht mehr in die gegenwart zurückgeholt werden als das, was es in seiner gegenwart einmal gewesen war. /abs.:012*

Im akt des erinnerns holt das individuum seine vorstellungen von fakten, die in die vergangenheit abgesunken sind, in sein bewusstsein zurück, und transformiert diese vorstellungen im moment des erinnerns zu etwas neuem, das wiederum als ein faktum in die vergangenheit absinken muss. In jedem akt des erinnerns wird dieser prozess von neuem in bewegung gesetzt. /abs.:013*
 

4. argument 2:  die dialektik der zeiterfahrung

Im blick auf das menschliche bewusstsein bedarf das 1. argument einer ergänzung. Die zeit, allein auf die unmittelbare gegenwart des hier und jetzt reduziert, würde den begriff der zeit für das individuum unerfahrbar machen. Gerade weil in der erfahrung der individuen die zeit in den drei formen der zeit als gegenwart, als vergangenheit und als zukunft gegliedert ist, kann das individuum die zeit als gegenwart überhaupt erfahren. Im bewusstsein des individuums ist die erlebte unmittelbarkeit des moments der gegenwart immer eine durch die ver-gangenheit oder die zukunft vermittelte erfahrung. Die fakten, die in die vergangenheit abgesunken waren, sind für das individuum keine blossen fakten unter anderen, sondern sie sind im akt des erinnerns ein moment seines selbst, sei es, dass es die gegenstände seiner erinnerung im vollzug seines lebens selbst geschaffen hat, sei es, dass es sie als fakten seiner gesellschaft rezipiert, der es als individuum notwendig angehört. /abs.:014*

Die verknüpfung der erinnerten vergangenheit mit der erfahrung der unmittelbaren gegenwart ist dialektischer natur. Was die vergangenheit ist, das ist sie nur in bezug auf die gegenwart, in der sie als erinnerung eines individuums präsent ist. Was die gegenwart in seiner unmittelbarkeit ist, das ist sie nur in bezug auf ein nicht mehr, in das sie im bewusstsein eines individuums nach erfüllung seines augenblicks absinkt, und das die individuen in ihrer erinnerung sich beständig als vergangenheit präsent halten können und müssen(1). Der versuch, die dialektik von gegenwart und vergangenheit in der erfahrung der individuen aufzubrechen, indem den drei formen der zeit ein eigenständiges sein zugeordnet wird, das wie die perlen auf einer schnur aneinandergereiht werden kann, muss die zeiterfahrung des individuums zerstören, weil die drei zeitformen in diskrete punkte auf einer imaginären skala auseinanderfallen müssen, die das bewusstsein nicht miteinander verknüpfen kann; denn die punkte sind immer wieder von neuem beliebig miteinander austauschbar(2). /abs.:015*
 

5. argument 3: die geltung einer wahrheit

Wenn ein individuum davon überzeugt ist, dass die zeit sich nur in der unmittelbarkeit der gegenwart ereignet und die formen der zeiterfahrung allein reflexereignisse eines individuums sind, dann zerfällt die welt dieser individuen faktisch in einzelfälle, die allein durch die willkür der individuen miteinander in eine beziehung gesetzt werden.
/abs.:016*

Wie kann unter dieser bedingung der zeiterfahrung dann noch eine kommunikation der individuen untereinander möglich sein, wenn jedes individuum für sich "seine" wahrheit geltend macht, die nicht mit den wahrheiten der anderen zusammenstimmt? /abs.:017*

Wie ist dann eine wahre aussage möglich über die ereignisse der welt, die in die vergangenheit abgesunken sind? Ist nicht alles der unmittelbarkeit der gegenwart preisgegeben und alles gleich "wahr" oder gleich "falsch", wenn es sich im moment seiner gegenwart zeigt? /abs.:018*

Wie kann sich dann ein individuum noch in seiner welt zurechtfinden, wenn es nichts mehr zur hand hat, das ihm eine verlässliche orientierung vermitteln könnte, wenn es keine verlässlichen werte, keine historische wahrheit mehr gibt? Ist das nicht die realität einer welt, die nach den worten Nietzsches denkbar wäre, wenn es möglich ist, dass der stolz eines individuums in seiner absoluten willkür das gedächtnis terrorisiert? /abs.:019*

Die antwort muss lauten: ja und nein. /abs.:020*

Ja! insofern, als die argumente 1 und 2 nicht revidierbar sind, es sei, das individuum negiert absolut jede grundsetzung und löscht sich selbst aus. /abs.:021*

Nein! insofern, als jedes individuum für sich "eine wahrheit setzt", für sich "seine zeit schafft" und sowohl eine zeit als vergangenheit als auch eine zeit als zukunft konstruiert, die es in der gegenwart, im unmittelbar gelebten moment seiner existenz realisiert. Diese setzung ist für das individuum absolut verbindlich. Mit dieser setzung kann es alle anderen phänome seiner existenz bestimmen und zu einem weltbild zusammenfügen, das im prozess seines lebens einer beständigen revision und neubegründung unterworfen ist. Hierbei fungieren die fakten seiner vergangenheit, die das individuum in seinem erinnern in die unmittelbarkeit der gegenwart zurückholt und die - bearbeitet - wieder in die vergangenheit absinken, ebenso als stoff wie die daten seiner gegenwart und die träume seiner zukunft, durch die das individuum seine welt konstruiert. /abs.:022*

Solange das individuum diese setzung nicht in frage stellt - und es gibt in der welt eines individuums viele gründe, die letzten gewissheiten nicht beliebig in zweifel zu ziehen -  solange gilt auch diese setzung. Alles muss sich nach den regeln seiner welt an dieser setzung messen, überprüfen und bewerten lassen. Hat das individuum aber einen grund, diese setzung zu revidieren, dann hebt es für sich die verbindlichkeit auf und konstituiert eine neue setzung, die dann für es wieder absolut gilt. Das entscheidende moment meines arguments ist, dass die geltungsanordnung in ihrer konkreten gestalt jederzeit vom individuum revidierbar ist und durch eine andere geltungsanordnung
wieder ersetzt werden muss, die systemimmanent zu grundlegenden änderungen im weltbild des individuums führen kann. /abs.:023*

Die kommunikation der individuen in einer gemeinschaft ist nur unter der bedingung möglich, dass jedes individuum die setzung eines anderen oder die einer gruppe für sich als gültig akzeptieren kann und akzeptiert. Mit der anerkennung der setzung aber unterwirft es sich auch der verbindlichkeit dieser setzung. Diese struktur der anerkennung der setzungen anderer individuen macht die rede von den "wahrheiten"(1) möglich, die als orientierungspunkte die gesamte existenz eines individuums und seiner gemeinschaft in einer lebbaren ordnung zusammen-fassen. Diese wahrheiten sind - Ich wiederhole es - konstruktionen der individuen im vollzug ihres lebens, das sich nur in der unmittelbarkeit der gegenwart, des hier und jetzt, und vermittelt durch die zeit alsvergangenheit(2) in der arbeit des erinnerns, ereignet. /abs.:024*
 

6. folgerung aus den argumenten 1-3

Es ist nicht bestreitbar, dass geglaubte wahrheiten, insbesondere die historischen wahrheiten, unbeständig sind und den jeweils herrschenden bedürfnissen angepasst werden. Die veränderbarkeit historischer wahrheiten hat aber ihren grund weder in einem mangel des historisch verfügbaren datenmaterials, noch in einem bösewollenden interesse eines individuums, sondern der grund liegt in der struktur der selbsterfahrung jedes individuums, das die zeit als vergangenheit, die es in seiner erinnerung aufbewahrt, im akt des erinnerns, der sich in der unmittelbaren gegenwart ereignet, immer wieder neu bestimmen muss, um zu wissen, wer es ist. In diesem prozess des sich immer wieder selbst bestimmens, werden notwendig die fakten, die bereits in die vergangenheit abgesunken waren, neu bestimmt, neu vermessen und neu bewertet(1). /abs.:025*

Dennoch ist an der idee einer historischen wahrheit, die nicht jedem interesse preisgegeben ist, mit guten gründen festzuhalten. Die soziale notwendigkeit der kommunikation zwingt die individuen zu verfahren, die einen konsens aller im prinzipiellen zum ziel haben müssen. Nur die verständigung auf bestimmte historische wahrheiten, die von den beteiligten individuen auch für sich als verbindlich anerkannt werden, kann die orientierungspunkte markieren, die ein individuum braucht, um sich in seiner welt, die es immer mit anderen teilt, zurechtfinden zu können(2). /abs.:026*

Wenn eine konkrete historische wahrheit, die bislang als fraglos gültig akzeptiert worden war, in frage gestellt wird, dann ist das nicht eine frage der historischen wahrheit selbst, sondern ein problem des konsenses über diese wahrheit. Ein beleg dafür ist der sog. historikerstreit in Deutschland seit 1986. Die auseinandersetzung mit der eigenen geschichte, sowohl als individuelle biographie als auch als kollektives schicksal einer gemeinschaft von individuen, hat immer das selbstverständnis eines individuums und seiner gemeinschaft zum gegenstand. Die historischen data, was immer sie sein mögen, sind dazu nur ein mittel in einem prozess, von dessen überaus komplexer struktur Ich nur einen aspekt etwas schärfer beleuchtet habe. /abs.:027*
 

anmerkungen:

(*) die ziffern 1.-6. enthalten den text des auf der tagung in Paris gehaltenen referats; änderungen betreffen nur den situativen kontext. Die Ziffern 1.1.-6.2. enthalten erläuterungen und ergänzungen. /abs.:028*    <---

1.1. über die dinge der welt - meiner welt - kann Ich allein in der ich-form sprechen. Damit ist kein radikaler individualismus intendiert; denn dieser ist als soziales phänomen nur ein thema unter anderen und das interessiert mich nicht, es geht hier um die grundlegende möglichkeit der erfahrung von welt. /abs.:029*   <--

1.2. der begriff: tatsache, ist ein problematischer begriff. Die oberflächliche klarheit des begriffs verdeckt seine impliziten bedingungen. Die tatsache ist immer ein subjektiv vermitteltes faktum, das niemals objektiv bestimmt werden kann. Was als tatsache für ein individuum gilt, ist immer ein durch dieses individuum vermitteltes faktum, das ein teil der welt des individuums ist und folglich nur im horizont dieser welt verstanden werden kann. Die idee einer von den interessen eines subjektes unabhängigen objektivität von sachverhalten, die in der kommunikation der individuen untereinander von allen anderen anerkannt werden muss, ist anders zu begründen: nicht von einer welt ausserhalb eines individuums aus, sondern vom individuum her; denn allein das individuum ist in seiner welt als subjekt tätig, und das individuum hat es nur mit seiner welt zu tun; die NATUR, die als das andere zu seiner welt fungiert, ist ein postulat seiner erfahrung von welt. /abs.:030*
<--

2.1. was für die religionen der welt gilt, das gilt uneingeschränkt auch für jede metaphysik, ontologie oder eine sonstige wissenschaft. /abs.:031* <--

3.1. hinsichtlich der zukunft ist das argument strukturell das gleiche, aber die probleme sind hier schwieriger darstellbar, weil jeder zukunft das moment der vagheit inhärent ist, das die kommunikation der individuen über das, was erst noch werden soll, erschwert. Der begriff der utopie verweist auf diese schwierigkeiten. /abs.:032*  <--

3.2. der metaphorische gebrauch intendiert keine verräumlichung des zeitbegriffs. Ich verweise auf Kant, der meint, dass die anschauung notwendig den bedingungen von raum und zeit unterliegt. An der verräumlichung der zeit als einer sprachlichen konvention halte ich aus pragmatischen gründen fest. /abs.:033*  <--

3.3. die sprache, die wir verwenden, reproduziert notwendig die tradionellen vorstellungen von der zeit. Diese tatsache kann aber nicht als argument gegen mein argument instrumentalisiert werden. Aus der vorstellung der zeit, die in einer bestimmten sprache formuliert worden ist, lässt sich nicht ableiten, dass die zeit auch den bedingungen der sprache entsprechen muss, in der die vorstellung formuliert worden ist. Das ist genau der systematische fehler, den jede ontologie notwendig begehen muss. /abs.:034*  <--

3.4. es ist an Heraklit zu erinnern, der diesen gedanken schon zu beginn der abendländischen philosophietradition formuliert hatte. Das metaphysisch begründete bedürfnis der individuen nach einer geordneten welt, in der alles kalkulierbar sein muss, hat diesen gedanken immer wieder zu verdrängen gewusst. /abs.:035*  <--

4.1. die argumentation gilt auch für die relation: gegenwart - zukunft, nur ist die struktur dieses zusammenhangs komplexer, weil das, was die zukunft ausmacht, immer vager formuliert sein muss als das, was geschehen ist. /abs.:036* <--

4.2. im fortgange der zeit - immer in der richtung des zeitpfeils - wird der punkt, der zukunft war, gegenwart, die gegenwart vergangenheit usw.. Jeder punkt kann damit zukunft, gegenwart und vergangenheit repräsentieren, ohne dass entschieden werden könnte, welche zeitform im konkreten moment der zeit gültig ist. In theoretischer hinsicht gilt diese feststellung absolut, in praktischer hinsicht haben die individuen lösungen gefunden, die ihre bedürfnisse befriedigen können. /abs.:037*  <--

5.1. der ausdruck "wahrheit" ist immer im plural zu verwenden. "Die"
wahrheit gibt es nur in bestimmten philosophischen systemen, denen man zustimmen kann oder auch nicht. /abs.:038* <--

5.2. für die zeit als zukunft gilt das argument in der gleichen weise. Es ist die funktion der utopie, in der unmittelbarkeit der gegenwart das zu vermitteln, was noch nicht ist, aber einmal sein könnte. /abs.:039*  <--

6.1. dieser vorgang ist den historikern nicht unbekannt: sie tun in ihrer arbeit nichts anderes. Die historiker unterscheiden sich von einander nur darin, dass ihre arbeit einmal als neue historische erkenntnis gefeiert, ein andermal als geschichtsklitterung verachtet wird. Das aber hängt allein vom dem interesse ab, das das resultat bewertet, und von der verfügbaren macht, mit der eine neue geschichtswahrheit durchgesetzt werden soll. /abs.:040* <--

6.2. die funktion der mythen ist es, solche orientierungsmarken zu setzen. Entscheidend ist nicht, ob das erzählte tatsächlich sich einmal so ereignet hat, wie es erzählt wird, sondern entscheidend ist, dass geglaubt wird, dass es sich so ereignet hat - und dies genügt. /abs.:041*  <--
finis      <--//

lokale register:

anerkennung                                       001:zeiterfahrung
                                                          *abs.:024*
arbeit/-->begriff                                  001:zeiterfahrung
arbeit/-->definition                              001:zeiterfahrung
                                                           *abs.:001*
dialektik_der_zeiterfahrung                  001:zeiterfahrung
                                                           *abs.:015; 022; 024; 025*
erinnerung                                            001:zeiterfahrung
                                                           *abs.:010; 013; 014; 024*
factum_der_vergangenheit                    001:zeiterfahrung
                                                           *abs.:007; 008; 010; 014; 025*
gegenwart                                            001:zeiterfahrung
                                                           *abs.:009; 012; 016*
geltung                                                 001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:023*
glück                                                    001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:012*
grund/erste,resp.letzte                           001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:005; 023*
Heraklit                                                001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:035*
historikerstreit/1986ff                            001:zeiterfahrung
                                                                  *abs.:027*
individuum                                            001:zeiterfahrung
                                                                  *abs.:005*
individuum                                            /--> individuum_als_ich
Kant, Immanuel                                    001:zeiterfahrung
                                                                  *abs.:033*
kommunikation                                     001:zeiterfahrung
                                                                  *abs.:017; 024; 026*
konsens                                                001:zeiterfahrung
                                                                  *abs.:026; 027*
mythos                                                 001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:041*
NATUR/-->zeichen                             001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:030*
Nietzsche, Friedrich                             001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:003; 019*
ontologie                                              001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:031; 034*
setzung                                                 001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:005; 022; 023*
stoffwechsel_der_natur                         001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:009; 010; 012*
subjekt/objekt                                      001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:030*
tatsache                                                001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:003; 030*
vergangenheit                                        /--> factum_der_vergangenheit
wahrheit/historische                               001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:003; 017-019; 022; 024-027;  039; 040*
welt/-->begriff                                      001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:030*
zeit                                                       001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:006; 007; 033; 034; 037*
zeit/-->begriff                                       001:zeiterfahrung
zeiterfahrung                                         /--> dialektik_der_zeiterfahrung
zeiterfahrung                                         001:zeiterfahrung
zukunft                                                 001:zeiterfahrung
                                                                 *abs.:032; 036; 039*              <--//
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stand: 08.12.31.    //  eingestellt: 01.11.07.

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