BIBLIOGRAPHIE
textsammlung

004:geschichte

Die geschichte endet nie - geschichten immer. Die dialektik gelebter zeit und erlebten lebens.
(1998/2001)
*abs.:001-039*
Intern. Society for Intellectual History (ISIH), Enden von Geschichten/ Geschichten des Endens,
/ Tagung, Berlin 10.-14.Juni 1998
vortrag (fssg.f.d.druck)
*stichworte  // *abstract   //  * übersicht/gliederung
*text  //  *lokale register
stichworte:
    begriff
    geschichte_als_erzählung
    geschichte_als_idee
    phänomen
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abstract:

Das wort/zeichen: geschichte, ist zweideutig und zur bezeichnung der eindeutig strukturierten geschichtsbegriffe und geschichtsphänomene wenig geeignet.

Es werden unterschieden:
     - der begriff: geschichte als idee
     - der begriff: geschichte als erzählung.

Die dialektik der geschichte umfasst drei momente, die in einer wechselseitigen relation zueinander stehen, indem das jeweils ausgeschlossene dritte moment der interpretationshorizont für die konkrete relation ist:

Die geschichte ist als idee und als erzählung die gelebte zeit und das erlebte leben eines individuums als ich.

Im kontext meines begriffs der zeiterfahrung bedeuten:

     - die gelebte zeit:      die facta der vergangenheit;  im sinn der erledigten zeit/gegenwart
     - das erlebte leben:   die historische erinnerung;  immer die gegenwart, das hier und jetzt;
                                     die erinnerten facta der vergangenheit.

Die redeweise vom ende der geschichte ist mit der idee der zeiterfahrung unvereinbar; der physische tod eines menschen beendet die zeiterfahrung, es hat diese erfahrung der welt nie gegeben.

Jede geschichte als erzählung hat einen benennbaren anfang und ein benennbares ende. Anfang und ende werden durch die "historische wahrheit" definiert, die ein konsens zwischen dem erzähler und seinem zuhörer ist, der vom erzähler und zuhörer, jeder für sich, zu verantworten ist. Die historische wahrheit ist eine erzählung.
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übersicht:

1.      das problem: zeichen - begriff - phänomen
2.      die dialektik der geschichte als idee und der geschichte als erzählung
2.1.   der begriff: die geschichte als idee
2.2.   der begriff: die geschichte als erzählung
2.3.   die relation der beiden begriffe.
2.4.   der begriff: das individuum als ich
2.5.   die dialektik der drei momente: geschichte als idee, geschichte als erzählung und das individuum als ich.
3.      die geschichte als gelebte zeit und erlebtes leben
3.1.   die redeweise vom anfang und ende der geschichte
3.2.   die idee der zeiterfahrung eines individuums als ich
3.3.   die geschichte als organisierte zeit
3.4.   die ordnungsfunktion der geschichtserzählungen
3.5.   die historische wahrheit ist ein problem des gewählten anfangs und endes einer erzählung
4.      finale
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text:

Die geschichte endet nie - geschichten immer.
Die dialektik gelebter zeit und erlebten lebens.

1.  das problem: zeichen - begriff - phänomen

Die geschichte endet nie - geschichten immer; ein spiel mit worten und das mit gutem grund: für die erinnerungen an das, was geschehen war, verfügt die deutsche sprache(1) über ein bedeutungsschweres wort: geschichte. Dieses wort - ein zeichen - muss eine grosse last tragen: es soll unterscheidbare begriffe und vielfältige phänomene bezeichnen - eine aufgabe, an der das zeichen: geschichte, scheitern muss.
(*abs.:001*)

Einen ausweg verspricht die unterscheidung: die geschichte zum einen, zum anderen: die geschichten. Singular/plural - eine unterscheidung, die schon bei einer simplen geschichte versagt, die immer auch ein teil der geschichte ist. (*abs.:002*)

Diese schwierigkeiten betreffen aber nur das zeichen; die begriffe und die phänomene, die mit dem zeichen: geschichte, gekennzeichnet werden, sind in ihrer struktur eindeutig unterscheidbar. Der sprachgebrauch, soweit er die zweideutigkeiten des wortwitzes nicht ausbeuten will, unterscheidet die begriffe klar: zum einen die geschichte als eine idee, und zum anderen die vielen erzählungen, die konkret ein ereignis oder eine folge von ereignissen in worte fassen. (*abs.:003*)

Auch die phänomene sind klar voneinander unterschieden. Wenn veteranen von ihren erlebnissen aus gewalttätigen zeiten, im fortschreitenden leben verklärter, erzählen, dann unterscheiden sich diese erzählungen klar von der rede eines politikers, der mit grosser pose vom mantel der geschichte schwafelt und meint, überall sein wehen verspüren zu müssen. (*abs.:004*)

Ich beschränke mich auf die begriffe und werde die unterschiedlichen strukturen der geschichte als idee und der geschichte als erzählung unter dem aspekt gelebter zeit und erlebten lebens analysieren.
(*abs.:005*)
 

2. die dialektik der geschichte als idee und der geschichte als erzählung

Die strukturelle differenz der dialektisch relationierten momente ist die prämisse einer dialektik der geschichte als idee und der geschichte als erzählung. Weiter erfordert diese idee der dialektik die explikative akzentuierung eines dritten, immanenten moments: das individuum als ich; es ist das subjekt der geschichte und seiner geschichten. (*abs.:006*)

Der begriff: geschichte als idee, formuliert die zeiterfahrung eines individuums als ich. Folglich kann die geschichte als idee nur im singular möglich sein. - Widerspruch! Die idee der geschichte ist die sache eines kollektivs und nicht eines einzelnen menschen. So spricht man von der geschichte der deutschen als dem kollektiv aller deutschen, das - wie man so sagt - seine geschichte lebt. Das bestreite Ich nicht, Ich erwidre aber, dass ein kollektiv allein von jedem individuum für sich getragen wird, das mit anderen individuen ein kollektiv konstituiert und dieses wird als ein ganzes von jedem für sich wahrgenommen. Das konstituierende merkmal des kollektivs ist der beständige wechsel seiner mitglieder. Unter dem blickwinkel des historikers ist das kollektiv eine gruppe von individuen, die sich - jeder für sich - anderer individuen, zumeist verstorbener, erinnern, und die über diese anderen sich geschichten erzählen, an denen die anderen - vor allem die verstorbenen - nicht teilnehmen. Das sichert in der vorstellung der mitglieder des kollektivs eine kontinuität, die faktisch aber eine illusion ist. Im kollektiv ist jedes individuum als ich für sich selbst, und seine zeiterfahrung, die es als mitglied des kollektivs in diesem macht, ist eine andere als die zeiterfahrungen, die die anderen individuen desselben kollektivs, jedes für sich, machen. Daher ist es zulässig zu sagen, dass ein kollektiv aus der perspektive des individuums als ich "ewig" ist; denn es hatte bereits vor dem individuum bestanden und wird nach seinem tode weiter bestehen. Es ist aber unzulässig zu sagen, dass die ideen, die von den mitgliedern des kollektivs geteilt werden, in der gleichen weise ewig sind. Denn die geschichte als idee ist eine gedankenkonstruktion, die sich das individuum als ich in seinem kollektiv zurechtgelegt hat, und diese idee ist eine überzeugung, die es gemeinschaftlich mit jedem anderen mitglied des kollektivs teilt. (*abs.:007*)

Der begriff: die geschichte als erzählung, zielt auf die einzelne geschichte ab, in der von einem ereignis erzählt wird, das in der zeit durch einen benennbaren anfang und ein benennbares ende begrenzt ist. Diese erzählungen weisen eine struktur auf, für die das märchen die formeln unübertreffbar gefunden hat: es war einmal... und wenn sie nicht gestorben sind....  (*abs.:008*)

Zur struktur jeder erzählung gehören unabdingbar die person des erzählers und die seines zuhörers. Ein kollektiv als kollektiv kann keine geschichte erzählen, es kann auch nicht der adressat einer geschichte sein(2). Immer ist es ein individuum als ich, das in diesen erzählungen seine gelebte zeit als erlebtes leben erfährt. (*abs.:009*)

So vielfältig die formen dieser erzählungen auch sind - das wortspiel, der witz, die anekdote, der wissenschaftliche bericht, ein epos, oder ein heiliges buch - ihr gemeinsames kennzeichen ist, dass sie in irgendeiner form beginnen und enden. Als beispiel zitiere Ich die bibel mit ihrer schöpfunggeschichte und ihrem triumphalen ende beim jüngsten gericht: das chaos als beginn einer welt und ihr untergang als ziel. Es kann auch ganz einfach sein: jemand beginnt einem bericht und muss aus irgendeinem grunde aufhören, letztlich weil ihn die müdigkeit überwunden hat. (*abs.:010*)

Die geschichte als idee und die geschichte als erzählung, sind
dialektisch aufeinander verwiesen. Jede erzählung ist eingebettet in die geschichte als idee, und die geschichte als idee ist erst in einer konkreten erzählung fassbar. Wenn ein historiker nüchtern über die nationale grösse seines volkes schreiben will, dann wird er dies nur leisten können, wenn er konkrete geschichten, zumeist anekdoten, aus der tradierten geschichte als beispiele zitiert(3). Diese erzählungen werden nur verstanden, wenn als interpretationsrahmen eine bestimmte idee dieser historischen vergangenheit von den beteiligten akzeptiert ist. (*abs.:011*)

Die these einer wechselseitigen bedingung von geschichte als idee und geschichte als erzählung ist keine neue einsicht, es ist aber zweckmässig, hier wieder einmal daran zu erinnern; denn die konstruktion einer dialektik von geschichte als idee und geschichte als erzählung enthält ein drittes moment, das die dialektische struktur der beiden begriffe erst plausibel macht. (*abs.:012*)

Das dritte moment ist das individuum als ich, dass sowohl der erzähler als auch der hörer der geschichten ist. In vergangener zeit war diese struktur deutlicher erkennbar als heute. Die modernen medien haben den personalen zusammenhang verdunkelt. Zu verführerisch ist die idee, dass eine geschichte, einmal in worte gefasst und aufgeschrieben, den zusammenhang aufgebrochen haben könnte, der zwischen dem erzähler und seinem zuhörer besteht. So scheinen heute an die stelle des personalen verhältnisses  die zwei scheinbar parataktischen relationen getreten zu sein: schreiber (als erzähler) - medium, und medium - leser (als zuhörer). (*abs.:013*)

Tatsächlich ist aber die ursprüngliche relation: erzähler - zuhörer, bestehen geblieben, nur die schriftliche oder elektronische aufzeichnung hat sich als medium dazwischen geschoben, was den verkehr der individuen untereinander zwar enorm erleichtert, nicht aber prinzipiell verändert hat. Was immer das medium auch sein mag - worte, gesten, schriftliche oder elektronische aufzeichnungen - es sind allein die individuen als ich, die einander sich geschichten erzählen: der erzähler berichtet von einem ereignis, das in der vergangenheit sich ereignet hatte oder künftig sich noch ereignen soll. Sein zuhörer deutet das gehörte, indem er verstehend in unmittelbarer zeiterfahrung, seine geschichte daraus formt. Sowohl der erzähler als auch sein zuhörer, jeder auf seine weise, organisiert auf der basis der facta der vergangenheit und der projektionen der zukunft, seine zeiterfahrung, indem er sie zu einer geschichte mit einem anfang und einem ende zusammensetzt. Das resultat sind zwei geschichten, die auf dem ersten blick gleich sein mögen, aber keine ist eine blosse reproduktion und duplikation der anderen, sondern jede ist etwas neues: nämlich die gelebte zeit und das erlebte leben des erzählers und seines zuhörers. (*abs.:014*)

Die dialektik gelebter zeit und erlebten lebens ist ein system von drei momenten, die relational miteinander wechselseitig verknüpft sind.

    1. das individuum als ich, das geschichten erzählt oder hört;

    2. die idee der geschichte, die eine vorstellungen der individuen als ich ist; sie fixiert alle geschichten als teile eines ganzen.

    3. die konkrete erzählung, die von bestimmten ereignisen berichtet, die in irgendeiner form einen anfang und ein ende
        aufweisen; in ihrer roheste form: sie beginnen einfach und sie enden auch so. (*abs.:015*)

Diese momente sind untereinander relational in dieser weise verknüpft:

(*abs.:016*)

Welche relation in den blick genommen werden mag, immer ist das ausgeschlossene dritte moment der horizont, in dem die relation konkret gedacht wird. (*abs.:017*)

Spreche Ich über die relation: individuum<-->geschichte als idee, dann kann Ich das nur, indem Ich eine geschichte erzähle(4). (*abs.:018*)

Spreche Ich über die relation: individuum<-->geschichte als erzählung, dann erschliesst sich der sinn des erzählten nur im horizont der allg. geteilten geschichtswahrheiten(5). (*abs.:019*)

Spreche Ich über die relation: geschichte als idee<-->geschichte als erzählung, dann macht das nur sinn, wenn Ich an konkrete individuen denke, die diese relation in ihren funktionen als erzähler und zuhörer artikulieren(6). (*abs.:020*)
 

3. die geschichte als gelebte zeit und erlebtes leben

Die geschichte ist als idee und als erzählung die gelebte zeit und das erlebte leben eines individuums als ich. (*abs.:021*)

Die erfahrung der zeit ist für das individuum als ich immer mit der erfahrung der begrenzung seiner zeit verknüpft. Folglich muss auch jede generation in ihrer weise vom anfang und ende in der geschichte sprechen. Diese redeweise vom ende der geschichte ist unmittelbar auch mit der redeweise von der ewigen geschichte verknüpft. (*abs.:022*)

Diese redeweisen erfordern aber ein genaues hinschauen; denn weder gibt es ein ende der geschichte als idee, noch ist die geschichte als erzählung ewig; sie sind - so oder so - eine schöpfung des individuums als ich und diese ist untrennbar mit seiner zeiterfahrung verbunden. (*abs.:023*)

Aufgrund ihrer ontologischen prämisse ist die idee, dass die
geschichte als idee ewig sein soll, für mich nicht akzeptabel. Die frage, ob es eine ewige geschichte gibt oder nicht, ist nicht entscheidbar und folglich als problem irrelevant. Ich lege es ohne weitere erörterung beiseite. (*abs.:024*)

Anders die rede vom ende der geschichte, die periodisch regelmässig immer wieder aufgelegt wird; sie artikuliert die einsicht, dass die konkreten geschichtsideen ihre gestaltende kraft verloren haben. Die einteilung der geschichte in klar begrenzte epochen ist brüchig geworden und verloren gegangen. Es sind die lebenden, die sich das ende einer epoche erzählen, und sie tun es, indem sie sich geschichten erzählen, die die geschichte als idee fortsetzen. Sie schaffen so den neuen stoff für die historiker, die die einteilung ihrer geschichtsepochen neu vermessen, ihren anfang und ihr ende neu bestimmen müssen. Diese erzählungen sind in ihren anfängen und enden durch die bilder bestimmt, die im fundus der geschichte als idee gespeichert sind. Diese gemälde sind mehr oder weniger ein allgemeiner kon-sens, auf den die individuen in ihren kollektiven sich verständigt haben. Dieser konsens definiert, was als beginn und ende einer geschichte figurieren soll. So bunt wie das leben ist denn auch die rede vom ende der geschichte: schillernd und verwirrend. (*abs.:025*)

Unter dem aspekt der zeiterfahrung eines individuums ist die rede vom ende der geschichte gegenstandslos. Allein in der gegenwart, im hier und jetzt, kann das individuum als ich erfahren, was es selbst ist. Diese erfahrungen, gemacht in der vorstellung der zeit, sinken als facta in die vergangenheit ab oder werden als erwartungen in die zukunft projiziert. Sie werden vom individuum als ich in seinem lebensvollzug in den akten der erinnerung in die unmittelbarkeit der gegenwart zurückgeholt. In der gedachten zeit konstituiert es eine abfolge von ereignissen, die traditionell auf einer zeitschiene abgebildet werden: vergangenheit - gegenwart - zukunft. Jedes erfahrene ereignis ist auf dieser zeitschiene verortet - in der vergangenheit zumeist, in der zukunft und in der gegenwart. (*abs.:026*)

Diese idee der zeiterfahrung, die geschichte als gelebte zeit und erlebtes leben definiert, ist mit der redeweise vom ende der geschichte nicht vereinbar; es ist schlicht eine unsinnige redeweise. Mit dem physischen tod eines menschen endet seine zeiterfahrung, mehr noch, diese erfahrung der welt hat es nie gegeben. Was als facta der vergangenheit noch erinnert wird, sind die zeiterfahrungen anderer individuen, die sich gleichwohl jenes verstorbenen menschen erinnern können, und ihre erinnerungen an diesen menschen teilen sie in den kleinen und grossen erzählungen anderen mit und verschaffen so diesem verstorbenen ein nachleben - eine geschichte -, das in der folge der generationen verrinnt bis es vergessen sein wird, weil kein individuum als ich sich an dieses factum der vergangenheit noch erinnern kann. (*abs.:027*)

Die gelebte zeit, abgesunken als facta in die vergangenheit oder projiziert als erwartungen in die zukunft, ist keine regellose ansammlung von ereignissen. Es ist eine strikt organisierte und strukturierte zeiterfahrung. In traditioneller weise benutze Ich dafür den terminus: geschichte. Es ist erlebtes leben. (*abs.:028*)

In bestimmten situationen mag der eine oder andere die geschichte anders erleben, aber der subjektive eindruck ändert nichts an der tatsache, dass das individuum als ich diese ereignisse strikt auf der imaginären zeitschiene verortet und  geordnet hat. Im konkreten fall ist die anordnung disponibel entsprechend den bedürfnissen und interessen des individuums und seiner sozialen gruppen, aber die tatsache der ordnung bleibt dabei unangetastet: jedes ereignis ist entweder als ein factum der vergangenheit, oder als eine erwartung der zukunft oder als das konkrete erleben in der gegenwart einem der drei bereiche der zeit zugeordnet. Jedem ereignis folgt das nächste, verknüpft durch operatoren, über die der erzähler der ereignisse verfügt. Das ereignis beginnt an irgendeiner stelle im imaginierten zeitraum und endet auch so, um an das nächste anzuknüpfen, das auch einen anfang und ein ende hat. Dem ereignis ist nicht zu entnehmen, wie es zu beginnen oder zu enden hat. Dafür gibt es zwar vielfältige konventionen, an die die beteiligten sich halten, wenn sie verstanden werden wollen, aber diese konventionen, die im code einer bestimmten geschichtsidee festgelegt sind und für die der terminus: historische wahrheit, verwendet wird, sind produkte der zeiterfahrung eines individuums als ich. (*abs.:029*)

In jeder erzählung eines ereignisses ist die ordnung der zeit als gelebte zeit und erlebtes leben fixiert. Der erzähler einer geschichte legt fest, welche ordnung gelten soll. Indem er entscheidet, wie er eine geschichte beginnen oder enden lassen will, strukturiert er nicht nur seine zeiterfahrungen, sondern auch die erfahrungen der hörer dieser erzählung, indem er diesen vorschläge zur organisation ihrer zeiterfahrungen macht, denen sie zustimmen können oder auch nicht. Die mittel, mit denen der erzähler den anfang, das ende und den verlauf einer erzählung bestimmt, sind vielfältig. Er stützt sich dabei auf sein gedächtnis - so vor allem in früher zeit - oder in moderner zeit auf dokumente unterschiedlichster art. Aus der fülle dieses materials wählt er die ihm passenden ereignisse aus, die der zuhörer mit seinen erfahrungen vergleichen und so aus dem vergleich die glaubwürdigkeit des erzählten für sich beurteilen kann. Der rationale diskurs, den die erzählung zwischen dem erzähler und seinem zuhörer konstituiert, hat seine bedingung darin, dass sowohl der erzähler als auch der zuhörer definierte ordnungsstrukturen ihrer zeiterfahrungen zur verfügung haben, die im konkreten fall nicht immer übereinstimmen müssen. (*abs.:030*)

Die grosse und immer wieder beunruhigende frage, inwieweit eine erzählung historisch wahr ist oder nicht, hat ihr objekt nicht in dem erzählten ereignis, sondern im konsens, der zwischen den an der erzählung beteiligten bestehen muss. Was heute unter dem stichwort der historischen wahrheit diskutiert wird, ist nicht ein problem der in die vergangenheit abgesunkenen facta, es ist ein problem der geltung der überzeugungen, die von den beteiligten geteilt werden müssen. Ob der erzähler eine geschichte so oder so anfangen oder enden lässt, hängt davon ab, ob die hörer gewillt sind, diese veränderungen des bisher vertrautem zu akzeptieren oder nicht. Es ist nicht der erzähler einer geschichte, der entscheidet, was der historischen wahrheit entspricht, sondern es ist sein zuhörer, der eine bestimmte tatsache, die als historische wahrheit präsentiert wird, als eine solche akzeptiert oder nicht. Aber auch der zuhörer entscheidet nicht allein über die historische wahrheit des gehörten, sondern es ist der erzähler, der im dialog mit seinem zuhörer den anfang und das ende seiner erzählung neu organisiert, um so das beiderseitige verstehen zu sichern. (*abs.:031*)

Der konsens über eine bestimmte historische wahrheit ist wiederum eine erzählung, deren funktion es ist, für andere erzählungen der maasstab zu sein, mit dem beurteilt werden kann, ob das, was erzählt wird, wahr ist oder nicht. In dieser erzählung werden die erinnerten facta der vergangenheit mit den erwartungen an die zukunft verknüpft. Sie formuliert die idee einer geschichte, die von allen, die es betrifft, akzeptiert werden muss, wenn die durch den beginn und das ende einer erzählung festgelegte ordnung glaubhaft sein soll. Alles, was von dieser ordnung abweicht, ist für die beteiligten, die es betrifft, praktisch nicht vorstellbar; es ist, nach ihrem urteil, auch faktisch nicht existent. (*abs.:032*)
 

4. finale

Die geschichte endet nie - geschichten immer, so auch diese erzählung.
(*abs.:033*)

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Anmerkungen:

(1)  Die anderen sprachen stehen vor dem gleichen problem. So das spanische: historia. Die angelsächsische sprache unterscheidet deutlicher. Hier deuten die zeichen unterschiedliches an: history - story. Die buchstabenfolge lässt den bezug noch erkennen. Der ausweg ist die unterscheidung mittels zweier zeichen: geschichte - erzählung (span.: la historia - el cuento), aber mit der unterscheidung ist auch das problem eskamotiert. Die erzählung (roman, anekdote, legende usw.) ist immer ein isoliertes phänomen, und der bezug zur geschichte, der gesamtheit der vielen erzählungen, ist nur durch eine weitere erzählung, die die idee der geschichte formuliert, herstellbar. Darüber hinaus ist der witz zerstört, mit dem das wortspiel rechnet. Diese schwierigkeiten deuten darauf hin, dass es kein problem einer bestimmten sprache ist, es ist vielmehr es ein universales problem: die zeiterfahrungen des menschen. (*abs.:034*)  <--//

(2)  Zwar redet man von den erzählungen der völker, die sich diese völker erzählen; aber das ist eine unzutreffende und falsche redeweise. Nicht das volk als ganzes ist der autor der Edda, sondern benennbare, heute nicht mehr bekannte erzähler waren ihre autoren, individuen also, und auch die zuhörerschaft waren immer bestimmte einzelne personen, nie das volk als kollektiv. (*abs.:035*)    <--//

(3)  als beispiele, wenn auch sehr problematische fälle, könnten zitiert werden: Wilhelm Tell, Napoleon, Hitler. Sie sind als demonstrationsobjekt gut geeignet, weil die unterschiedlichen, einander sich ausschliessenden interpretationsrahmen deutlich gemacht werden können. (*abs.:036*)    <--//

(4)  die "deutsche" geschichte in der interpretation eines historikers; die darstellung einzelner episoden aus der deutschen vergangenheit: NS-Deutschland/2.weltkrieg. Dabei ist es im prinzip gleichgültig, welche episoden der historiker wählt. Entscheidend ist allein, ob die erzählung plastisch genug ist, das abstrakte moment zu vergegenwärtigen. (*abs.:037*)
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(5)  der holocaust; die isolierte geschichte eines opfers oder täters wird erst verstehbar, wenn sie in ihren historischen kontext gestellt und interpretiert wird. (*abs.:038*)    <--//

(6)  eine geschichte "an sich", sei's als idee oder sei's als erzählung, kann Ich als theoretisches konzept nicht akzeptieren. Mit jeder idee oder erzählung sind notwendig personen verknüpft, weil nur das individuum als ich diese gedankenkonstruktion formulieren kann. (*abs.:039*)   <--//
finis    <--//

register (004:geschichte)

dialektik_der_zeiterfahrung                           *abs.:006; 011; 012; 014; 015*
ende_der_geschichte                                    *abs.:022; 023; 025-027*
erlebtes_leben                                              *abs.:015; 021; 027; 028*
erzähler                                                        *abs.:009; 013; 014; 030; 031*
ewige_geschichte                                          *abs.:022-024*
factum_der_vergangenheit                             *abs.:014; 026; 028; 031; 032*
gegenwart                                                     *abs.:026*
gelebte_zeit                                                   *abs.:015; 021; 027; 028*
geltung                                                          *abs.:031*
geschichte/-->begriff                                     *abs.:003*
geschichte/-->phänomen                               *abs.:004*
geschichte/-->zeichen                                   *abs.:001; 003; 034*
geschichte_als_erzählung                              *abs.:003; 006; 008; 010; 011; 014; 015; 021; 025; 027 030- 033; 037*
geschichte_als_idee                                      *abs.:003; 006; 007; 011; 015; 021; 025*
historia/span.                                                *abs.:034*
history/engl.                                                  *abs.:034*
Hitler, Adolf                                                 *abs.:036*
individuum_als_ich                                        *abs.:006; 007; 013; 015; 029; 035; 039*
kollektiv                                                        *abs.:007*
konsens                                                        *abs.:031; 032*
medien                                                          *abs.:013; 014*
Napoleon                                                     *abs.:036*
ontologische_argument                                  *abs.:024*
projektion_in_die_zukunft                             *abs.:014; 026*
relation                                                         *abs.:016-020*
sprache                                                        *abs.:034*
story/engl.                                                    *abs.:034*
Tell, Wilhelm                                                *abs.:036*
wahrheit/historische                                      *abs.:029; 031; 032*
zeiterfahrung                                                 *abs.:007; 014; 022; 026-029; 034*
zuhörer                                                         *abs.:009; 013; 014; 030; 031*
finis
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stand: 08.12.31.  //   eingestellt: 02.06.28.

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