006:Hegel/Adorno - anhang.

dokumentation: text des vortrags, gehalten in Zagreb am 31.08.2000
abgedruckt in: Hegel-Jahrbuch 2002. Phänomenologie des Geistes. Zweiter Teil. Berlin: 2002 (Akademie-Verlag). S.350-354.
(Die textfassung wurde seitenidentisch eingescannt, titelzeile der seiten beibehalten, übertragungsfehler stillschweigend korrigiert oder technisch angepasst. Die graphik musste nachgearbeitet werden.)
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DAS WAHRE IST DAS GANZE, SAGT HEGEL
- ADORNO SAGT: DAS GANZE IST DAS UNWAHRE.
METHODOLOGISCHE REFLEXIONEN ÜBER DREI WELTENTWÜRFE

0. Vorbemerkung

Die bedingungen des kongresses und der publikation seiner ergebnisse zwingen mich, den text einer grösseren arbeit auf das format eines 25 minuten-vortrags zu reduzieren(1). Ich werde mich daher auf zwei aspekte einschränken, die thesen und resultate vortragen, und die entfaltung meiner argumente auf das minimum beschränken, das zu ihrem verstehen notwendig ist. Der eine aspekt ist die rezeption von texten als prozess der welterfahrung, der andere aspekt sind die drei weltbegriffe und ihre differenzen.

1. Philologie versus philosophie - der vorrang der philosophischen reflexion

Das wahre ist das ganze, sagte Hegel - Adorno setzte dem entgegen: das ganze ist das unwahre. Die zitate, das erste aus der vorrede zur Phänomenologie des Geistes(2), das zweite aus der Minima Moralia(3), provozieren in ihrer gegensätzlichkeit die konfrontation zweier weltbilder, deren zauber bis heute ungebrochen ist.
Logisch betrachtet kann nur einer der beiden sätze wahr sein; in ihrer bedeutung aber sind die sätze zugleich falsch und richtig - allein die optik derjenigen, die diese sätze als instrumente ihrer argumentationen nutzen, entscheidet über ihre wahrheit und falschheit.
Die abgrenzung von philologie und philosophie verkürze Ich auf das resultat: Die texttreue folgt einem anderen masstab als die philosophische reflexion, die rekonstruierend und darin konstruierend andere, neue welten schafft.
Mein interesse gilt der philosophischen reflexion. Die textfassung der beiden zitate ist gesichert, ihre historischen konnotationen sind unbestritten. Adorno hatte sein dictum im blick auf Hegels these komponiert, indem er, einer stileigentümlichkeit seines denkens folgend, die positive aussage Hegels in das negative umgewendet hatte. Hegel und Adorno haben ihre sätze in der situation der krise formuliert, die unterscheidungen und entscheidungen für das eine oder das andere unausweichbar gemacht hatten.
Ich setze also voraus, dass Adorno seine aussage bewusst der Hegels entgegengesetzt hatte. Behaupte Ich damit, dass Adorno Hegel der unwahrheit beschuldigt haben könnte oder tatsächlich beschuldigt hatte? - mehr noch: behaupte Ich damit auch, dass Hegel nur noch ein objekt seiner nachlebenden ist, das jeder zumutung ohne die geringste chance einer selbstverteidigung ausgeliefert ist? - Ich antworte: nein! Der philosophische diskurs ist ein gespräch der lebenden, und an diesem diskurs nehmen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Theodor W. Adorno (1903-1969) - anders als der gute ton es suggeriert - nicht teil; in diesem gespräch, das Ich und sie heute und hier führen, sind allein die texte gegenwärtig, die Hegel und Adorno fixiert und als ihr erbe den nachlebenden zur erinnerung überlassen hatten. Diese texte werden von allen, die am diskurs sich beteiligen, interpretiert, mit bedeutungen und sinn angefüllt, für den die beteiligten allein verantwortlich sind. Jeder, der Hegels oder Adomos weltentwürfe zum gegenstand seiner retlexionen nimmt, stützt sich auf texte, die von der tradition Hegel und Adorno zugeordnet werden. Das thema des gesprächs hier und heute sind also meine welt und ihre welten, indem die welten von Hegel und Adorno momente meiner und ihrer argumentationen sind. Als facta der vergangenheit und damit als tatsachen der tradition sind sie dinge meiner, unserer welten, die an dem ausgerichtet sind, was Ich und sie als masstab dieser welten ansehen, und dieser masstab kann nur diejenigen binden, die ihn als für sich gültig anerkennen. Ich bin mir darüber im klaren, dass Ich, wenn Ich

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von den anderen verstanden werden will, den allgemeinen konsens der wissensgemeinschaft nicht aus dem blick verlieren darf. Täte Ich dieses, und daran könnte mich keiner hindern, so müsste Ich auch die konsequenz akzeptieren, dass die anderen mich nicht mehr verstehen können.

2. die welten HegelslAdornos - kritik des ontologischen arguments

Der sinn der beiden texte ist prima vista eindeutig. Hegel sagt, die welt kann nur als ein ganzes wahr sein; Adomo sagt, diese welt ist in ihrer gesamtheit das unwahre, das falsche. Ich weiss, dass meine formulierung eine reformulierung der texte Hegels und Adornos ist; es ist also eine interpretation und diese habe Ich zu verantworten.
Für Hegel ist das ganze ein begriff; folglich kann das ganze kein phänomen sein, das die dinge der welt unter dem zeichen: das ganze, in ihrer totalität umfassen soll. Im kontext der explikation seines begriffs knüpft Hegel aber nicht an dem begriff der logik an, sondern er bestimmt das ganze als ein phänomen, wenn er prädiziert, dass das ganze erst in seinem prozess als resultat das ist, was es sein soll; unmittelbar an das zitat anschliessend und von mir nur stilistisch angepasst sagt Hegel: »Das Ganze [ ... ] ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist [ ... ] wesentlich Resultat, [.. . ] es [ ... ] [ist] am Ende das, was es in Wahrheit ist«.(4) Ich kann Hegels text nur so verstehen, dass Hegel das ganze von der vorstellung des weges und seines zieles her definiert: erst wenn der weg in seiner zeit durchschritten ist, hat der prozess der welt seine vollendung und erfüllung erreicht. Was das einzelne, das partikulare, das »für sich seiende« in seiner besonderheit ist, kann gültig und wahr nur vom ende der welt, wenn die welt in ihrer zeit sich vollendet hat, entschieden werden. Das ist ein grossartiger gedanke, der den verheissungen der erlösungsreligionen gleichrangig ist. Dieser idee halte Ich aber entgegen, dass es nur die eine seite des problems sein kann; die andere seite des problems sind die konsequenzen für das leben, und diese sind für das leben fatal, Das ich kann als das »für sich seiende« sein leben allein in der zeit erfahren, die es in seinem tod aufgezehrt haben wird. Der glanz der hegelschen idee und seines im begriff des absoluten wissens verheissenen zieles erleuchten zwar das individuum als ich, es bleibt aber geblendet im dunkeln allein zurück.
Adorno hat seinen begriff des ganzen auf das phänomen: welt, reduziert. Er sieht nur noch das in seine teile zerfallene ganze. Ich akzeptiere Adomos analyse des weltzustandes, insofern er den zustand seiner welt beschreibt und damit fakten schafft, denen zu widersprechen es selbst einem zyniker die sprache verschlägt. Seine beschreibungen von 1944-47 haben heute im jahre 2000 nichts von ihrer aktualität eingebüsst. Aber ist deshalb sein dictum über das »beschädigte Leben«(5) notwendig auch schlüssig? Kann es wahr sein, dass der zustand der bürgerlichen welt vom individuum als ich nur noch als das unwahre wahrgenommen und beschrieben werden kann? - Ich weiss, dass Ich mit den phänomenen hantiere, die schwerlich zu bestreiten sind, deren begriffe aber ungeklärt im streit sind. Ich frage daher nach dem begriff, mit dem Adorno das, was ist, von dem anderen seienden unterscheiden und als das unwahre bestimmen will. Adorno, auf die negativität des begriffs verweisend, verbleibt notwendig im vagen, weil er in der fixierung des negativen der positivität seiner argumente nicht entgehen kann. Seine anstrengungen um die ästhetische theorie, zunächst in der musik des kreises um A.Schönberg, später im konzept des kunstwerks als fragment konkretisiert, sind dokumente seines problems und seines scheiterns.
Bei aller gegensätzlichkeit im detail scheitert das denken Hegels und Adomos an einem grund, der erst im moment der rezeption ihres philosophierens evident werden kann. Diesen grund kennzeichne Ich mit dem temünus: das ontologische argument.
Die philosophie Hegels und Adornos ist, wenn sie im horizont des ontologischen arguments reflektiert wird, für sich schlüssig; denn im begriff des seins ist das vorgängig gedacht, das bei Hegel das resultat der bewegung sein soll, und das bei Adorno das nichtidentische ist, das in der positivität des seienden nicht verschwindet. Dem individuum als ich ist der masstab und das ziel seiner weltvorstellung vorgängig präsent, und das objekt, das es in raum und zeit lebend und leidend bearbeitet, ist in seiner positivität die realität, die der unabdingbare durchgang zum ziel ist. Hegel hatte dazu die idee einer fortschreitenden geschichte erfunden, die in der absoluten freiheit ihre glanzvolle erfüllung finden soll; Adomo setzte seine

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hoffnung ganz auf das nichtidentische, das in der positivität des seienden als das ganz andere verborgen ist und das in der musik Schönbergs und im fragmentarischen kunstwerk aufleuchten soll.
Den grundwiderspruch des ontologischen arguments hatten weder Hegel noch Adorno philosophisch reflektiert, sie mussten daher notwendig an ihm scheitern. Hegel kann in seiner welt nicht das ganze gewinnen und verliert es daher an das für sich seiende, das im glanz der verheissenen erlösung mit jeder untat legitimiert werden kann; Adorno negiert die positivität des für sich seienden, und im phantasma des nichtidentischen kommt ihm das subjekt abhanden, für das alles geschehen soll. Es wäre aber verfehlt, von tragik zu sprechen und zum tagesgeschäft der postmodemen beliebigkeit zurückzukehren. In ihrem scheitern ist ein motiv wirksam, das die gleichgültigkeit durchbricht und die imagination neuer welten zumindest nicht unmöglich macht.
Die begründung meiner thesen verkürze Ich auf einen knappen hinweis: Das ontologische argument scheitert am problem der letztbegründung. Unter den bedingungen des kausalen denkens, das nur in den kategorien von raum und zeit konkret sein kann, ist das, was als erster grund behauptet wird, immer nur ein zweiter grund, der von den individuen als ich willkürlich gesetzt wird und dessen logischer zirkel flüt raffinierten ideologien kaschiert wird. Hegels begriff des ganzen und Adomos begriff des nichtidentischen sind solche setzungen, die welten begründen, deren strukturen durch die romantische idee bestimmt sind.
Der kein der romantischen idee ist die symbolische verwirklichung des ontologischen arguments, das im kunstwerk als neue einheit die entzweiung des ursprünglich einen aufhebt und diese einheit als erlösung im tode ausmalt, der die zeit vernichtet. Diese erlösung kann das in der zeit und durch diese zeit gequälte individuum als ich nur finden, wenn es im physischen tod in seinen ausgang zurückgekehrt ist. Das mag für das ich eine tröstende verheissung sein, aber für das individuum als ich, das sich selbst nur im horizont des noch-nicht-seins seiner geburt und des einmal-gewesen-seins des todes erfahren kann, ist diese idee nicht akzeptabel, weil sie eine unvernünftige und zudem zynische lösung ist, die den betrug zur maxime hat. Für subjekte, deren welt eingeschrumpft ist auf das interesse, andere beherrschen zu wollen, auch um den preis, dass sie selbst nur die beherrschten sind, ist die romantische idee eine waffe, die in ihren historischen varianten immer ihre täter und opfer hatte und auch weiter haben wird.

3. die welten Hegels/Adornos in der kritik des relationalen arguments

Es ist fruchtlos sich darüber zu streiten, welche sicht der welt die wahre ist - die Hegels, der das wahre in der vollendung sieht, oder die Adornos, der mit eingeschränktem blick das wahre ungehoben im negativen verborgen sieht. Wer in diesem diskurs seine antwort formuliert, konstruiert notwendig mit ihr seine sicht der welt, in der er lebt, real, positiv und nicht immer vergnüglich.
Meine antwort fasse Ich so zusammen: Im blick auf das relationale argument sind Hegels und Adornos begriffe der welt als deren vorstellungen der welt zu respektieren; es sind wahre vorstellungen der welt - ihrer welten. Die differenz liegt darin, dass das relationale argument das faktum der unentscheidbarkeit erster gründe anerkennt und versucht, auf dem fundament nicht begründbarer setzungen, die allein das ich zu verantworten hat, konkrete kausalsysterne zu formulieren, die die rationalität des handelns sichern sollen.
Der kein des relationalen arguments ist die idee, dass das ich sich nur in seiner relation zum anderen als ein ich erkennen kann. Was das ich in seiner welt ist, das kann es nur in seiner relation zum anderen sein. Im anderen steht dem ich real etwas entgegen, das es nicht ist, und von dem es dennoch nicht absehen kann - es ist die welt, in der es existiert.
Würde in der relation: ich <-- > das_andere, das_andere durchgestrichen, dann entfiele auch das ich als gegenstandslos. Das_andere ist für das ich in seiner umfassendsten form die welt, die als das ganze gedacht werden muss; jenseits ihrer grenze ist jedes argument gegenstandslos und folglich gleichgültig. Für das ich sind daher zwei relationen konstitutiv, die systernimmanent durch eine dritte relation zu einem ganzen zusammengeschlossen sind:

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Diese relationen sind in der weise miteinander verknüpft, dass immer zwei der drei momente: ich, welt, das-andere, eine relation im blick auf das ausgeschlossene dritte moment konstituieren.
Analysiere Ich die relation: ich <--> welt, wobei die welt notwendig als ein ganzes vorgestellt ist, das nichts mehr ausserhalb der welt zulässt, dann geschieht dieses immer im blick auf die konkreten dinge dieser welt. Ist die relation: ich <--> das_andere, das objekt meiner analyse, dann geschieht dies immer im horizont eines bestimmten begriffs von welt, der die welt als ein ganzes erfasst. Und schliesslich: die dritte relation: welt <--> das_andere. Die analyse dieser relation ist nur im blick auf ein bestimmtes ich sinnvoll.
Der angelpunkt des relationalen arguments ist das individuum als ich. Dieses muss - im sinne eines ersten grundes - vorausgesetzt werden, ohne dass es im letzten argument beweisbar wäre. Zwar gibt es viele theorien über das ich, aber alle diese theorien haben einen begriff des individuums zum fundament, der zumindest innerhalb des systems nicht mehr ausweisbar ist. Das ich ist der blinde fleck im systern und damit das einfallstor für jedes mögliche argument, z.b. das eines gottes oder das des grossen einen. Meine überlegung ist also auch mit dem problem der letztbegründung konfrontiert, und Ich löse das problem so, dass Ich ein moment setze, über das Ich legitimerweise nicht mehr sagen kann als dies, dass es das ist, was es ist: ein individueller impuls. Wortreich könnte Ich nun darüber sprechen, was dieser individuelle impuls alles sein könnte, aber alle aussagen darüber sind systemimmanente argumente, die aus jenem moment abgeleitet sind, das das ziel aller argumente ist. Ich sehe daher davon ab, hier noch mehr darüber zu sagen, über das zu reden die substanz eines jeden ich ist. Nur dies füge Ich hier noch an: in seiner struktur ist diese setzung ein zirkel, der den kreis schliesst und damit meine welt als ein ganzes konstituiert.
Hegels dictum, das den begriff des ganzen mit dem phänomen der welt des ich als ganzes identifiziert, ist für mich nicht akzeptabel, weil Hegel das moment der zeiterfahrung, in der das ich seine existenz und sein leben real, d.h. als phänomen, erfährt, in seinen reflexionen ausgeschlossen hat.
Das leben realisiert sich im moment der gegenwart, und die theorien der zeiterfahrung bestimmen bei allen sonstigen differenzen im detail die gegenwart als ein moment des durchgangs, das in seinem bezug auf die beiden anderen dimensionen der zeiterfahrung, der vergangenheit als faktum und der zukunft als projektierte utopie, strukturell defizitär ist. Weder kennt die gegenwart die abgeschlossenheit der in die vergangenheit abgesunkenen fakta, die das ich erinnemd als ein neugestaltetes ganzes in seine gegenwart zurückholt, noch kennt die gegenwart die phantasierte totalität einer utopie, die vorauseilend in der gegenwart vom ich imaginiert wird. Diese zeiterfahrung ratifiziert Hegel in seiner philosophie der geschichte, die als geschichtstheologie das ganze nur durch den abbruch der dialektik - er sagt, in der vollendung der dialektik - gewinnen kann. Die vollendung aber ist die metapher des todes - für das leben kann dies nur ein absurder gedanke sein. Das leben wird sinnvoll allein in der abgrenzung zur vorstellung des todes gedacht, der dem individuum als ich, das lebt, als horizont präsent ist. Die vorstellung, die Hegel in der idee formuliert hat, dass das ganze nur als resultat gedacht werden kann, ist mit dem begriff einer dialektik, die die momente des seins, des nichts und des werdens miteinander in einem prozess verknüpft, weder logisch vereinbar noch praktisch für ein individuum als ich lebbar. Entweder ist die dialektik ein unendlicher prozess, damit wäre für das ich das ganze faktisch nicht erreichbar und das wahre wäre nur noch eine schimäre; oder das ganze wird in einem moment der gegenwart herbeigezwungen, wie dies die romantische idee als versöhnung und erlösung suggeriert, den die anderen nur als tod des indivi-

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duums konstatieren können. Die konsequenz ist der abbruch der dialektik und ihre reduktion auf die beiden momente: sein oder nichts, positiv oder negativ, herr oder knecht, leben oder tod - für das leben, das in der gegenwart seine erfüllung hat, indem es auf die fakta seiner vergangenheit und die hoffnungen seiner zukunft relationiert ist, ist keine dieser alternativen befriedigend.
Adornos dictum, die positivität der welt insgesamt als falsch denunzierend, ist blind und verfehlt daher sein ziel, den blick für das im negativen und nichtidentischen verborgene wahre zu öffnen. Sein reduzierter dialektikbegriff beschränkt die zeiterfahrung des ich auf die reflexion bestimmter historischer fakten, in seiner theorie hat er sie ausgeblendet.
Das kunstwerk als solches ist das schibboleth des nichtidentischen, und die erfahrung der dinge der welt ist für das ich auf den gegensatz: positiv-negativ, reduziert, der nur noch die aufteilung des bösen auf das positive und das gute auf das negative zulässt. Die manichäische deutung ist eine unmögliche auflösung der welterfahrung, die als etwas positiviertes zwischen die möglichkeiten des alles oder nichts gestellt ist. Sich selbst dementierend sagte Adorno in der Negativen Dialektik: »Denken heisst identifizieren«.(6) Für das ich, das seine welt denkend erfasst, bedeutet dies, dass es sein leben nur dann realisieren kann, wenn es identifiziert, wenn es seine welt in der positivität des realen präsent hat, und das negative das ausgeschlossene dritte moment ist, in dessen horizont das positive dem ich in seiner gegenwart präsent ist. Das negative mahnt das ich daran, dass in der zeiterfahrung das, was ist, nicht alles sein kann, dass es auch noch anderes gibt. Das kunstwerk kann diese funktion ausfüllen; es kann die verkörperung des nichtidentischen sein und es ist in der verdinglichung zugleich seine verdeckung, aber im prozess der kommunikation der individuen als ich ist es immer das positive. Als ding der welt kann es nicht seiner positivität entkleidet werden und auch als negativ phantasierte schimäre ist es positiv phantasiert. Der einzige ansatzpunkt für die reflexion über die welt und sich selbst ist die positivität der dinge der welt, aber, um diese positivität erkennen zu können, muss das ich auch über den begriff des negativen verfügen. Nur von diesem aus kann das ich erfahren, was die dinge seiner welt in ihrem vorhandensein, in ihrer positivität für das ich sind.

4. Meine welt als das objekt der welterfahrungen der anderen

Meine interpretation der welt, fixiert in diesem text, ist jetzt das objekt anderer, die, wenn sie es wollen, diese argumente für ihre reflexionen sich zu eigen machen können. Ich denke, dass der philosophische prozess der reflexion auf die eigene existenz solange nicht abschliessbar ist, wie das ich in seiner zeiterfahrung zuhause ist. Und für diese erfahrung der zeit gilt, dass das ganze als phänomen weder das wahre noch das unwahre sein kann. Was das ganze und wahre, wenn die zeit im tode des individuums als ich erledigt ist, nun gewesen war und worin es bestanden hatte oder bestanden haben könnte, nun, das ist ein objekt für die anderen, über das nur sie, die nachlebenden, jeder in seiner weise, reden können.

Dr. Ulrich Richter
Dieninckstr.21
D-48167 Münster- Wolbeck
 

ANMERKUNGEN
1  Eine langfassung des textes ist einzusehen unter:
    http://www.ur-philosoph.de/04bibdat/106tx-head.html#text.  <--//
2  G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3,     Frankfurt/M 1970, 24.  <--//
3  T.W. ADORNO, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben,     Frankfurt/M. 1969, 57  <--//
4  G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, 24.  <--//
5  Aus dem subtitel der Minima Moralia. <--//
6  T.W. ADORNO, Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966,15. <--//
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stand: 09.01.01.  //  eingestellt: 03.09.25.:

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