TEXTSAMMLUNG
Das argument des monats

ausgabe: 09/01 - september 2001  (auch: 10/01 - oktober 2001)
 

Ich als philosoph und bürger

Es ist ein gemeinplatz jeder gesellschaftstheorie, dass der mensch in der kommunikation mit seinen anderen rollen spielt - philosoph sein und bürger sein sind rollen, die jeder nolens volens übernehmen muss.

Nun ist es seit Platon üblich, die rolle des philosophen höher zu bewerten als die des bürgers. Platon argumentierte: die philosophen pflegen vernunftgeleitet die vernunft, also müssen die philosophen die könige sein, die den bürger zu seinem besten leiten - die historia ist bisher den beweis dafür schuldig geblieben. Aber das offenkundige scheitern Platons in dieser sache dadurch kompensieren zu wollen, die karte nun auf den bürger zu setzen, scheiterte bisher auch. Der bürger mit seinen partikularen interessen neigt ebenso zur gewalt wie der philosoph in seinem wahn zur absoluten wahrheit, die anderes als seine wahrheit nicht gelten lassen kann.

Ich denke, das konzept der bewertenden vergleichung der rollen führt in die irre. Ich bestreite nicht, dass jeder bestimmte rollen in seiner gesellschaft höher oder niedriger bewertet, aber das kann nicht der maasstab sein für die einschätzung bestimmter rollen, die für die gesellschaft unabdingbar sind, weil sie jedem individuum als ich den ort in seiner gesellschaft schaffen und sichern, an dem sie ihre existenz befriedigend realisieren können. Die alternative ist daher nicht: entweder philosoph oder bürger; der schlüssel ist die verknüpfung der beiden rollen: sowohl als bürger als auch als philosoph muss das ich in seiner gesellschaft leben.

In diesen beiden rollen spiegeln sich die unterschiedlichen aspekte seiner existenz, die zumindest in dem willen möglichst gut und angenehm zu leben die gemeinsame schnittmenge haben. Das ich als bürger blickt auf den mitbürger, ohne den es als ich nicht existieren kann; als philosoph blickt das ich auf sich selbst; denn nur wenn es sich als ein selbst erfahren kann, lebt es die relation mit seinem anderen. Diese wechselbeziehung ist der grund, warum das ich nicht auf eine rolle reduziert werden kann, um in dieser rolle grösser zu erscheinen als es ist. Es ist eine fatale fehleinschätzung, den philosophen ex professione als weise zu hofieren, und vom bürger zu verlangen, dass er als bürger sich wie ein berufspolitiker aufspielt. Jeder muss seine rollen so ausfüllen, wie es ihm möglich ist, aber seine kompetenz in der einen rolle ist keine legitimation, sie auch in der anderen einzufordern. Ich verkenne nicht, dass es individuen als ich gibt, die beiden rollen zugleich gerecht werden, aber es gibt auch solche, die in beiden kläglich versagen. Wie es auch sein mag, ein aspekt sollte immer deutlich erkennbar sein: jeder muss dem anderen klar zu erkennen geben, in welcher rolle er seine argumente in den diskurs einbringt und geltend macht, sei es als philosoph, sei es als bürger.

stand: 01.10.06.

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