TEXTSAMMLUNG

Das argument des monats
ausgabe: 11-12/01  november-dezember/2001
 

Terror und krieg - die abdankung der politik.

Mit den emotionen, so scheint es, geht heute die nüchterne pragmatik und auch die vernunft verloren. Wenn das die realität heute ist, dann wäre dies der triumph der gewalt über die politik.

Ich kann mich des eindrucks nicht mehr erwehren, dass die politiker der, wie sie sagen, freien welt, gelähmt vom entsetzen über die ereignisse des 11.september 2001, nur noch reflexartig, immer das beste wollend, blinde gewalt mit ebenso blinder gewalt vergelten können. Das alttestamentliche prinzip des auge um auge, zahn um zahn ist aber unvereinbar mit einer sozialen daseinsweise der menschen, für die die bezeichnung: politik, geläufig ist. Der zweck der politik ist es, die unterschiedlichen und legitimen interessen der menschen miteinander auszugleichen. Gewalt aber, gleichviel in welcher erscheinungsform - krieg, terror, aber auch die chirurgie, die mit gesteuerter verletzung heilt, vermag nur einen zustand gegen einen anderen zustand auszuwechseln, entscheidend ist allein das vermögen des gewaltanwenders, den wechsel des zustands herbeizuführen.

Für das gewaltanwendende ich ist der andere ein blosses objekt seines tuns, so wie jede andere sache der welt für ihn ein blosses objekt ist. Die relation des ich zu seinem objekt ist einseitig, das objekt ist ein widerstand, den das ich überwinden will und, wenn es erfolgreich ist, auch überwindet. Gewalt, die das ich anwendet, ist das mittel, das objekt so zu formen, wie das ich sich das objekt vorstellt.

Ich spreche emotionslos über die gewalt, das dem ich als ein mittel seiner welterfahrung zu gebote steht, und es sollte nicht übersehen werden, dass ohne die gewalt in seiner reinen erscheinungsform die existenz des menschen, so wie sie uns geläufig ist, nicht vorstellbar ist. In den tagen der globalen verwirrungen bin Ich so frei, darauf zu verweisen, dass jeder, der, ohne es sonderlich zu bedenken, tag um tag sein brot verzehrt, das objekt seiner nahrungsaufnahme mit dem messer so zurichtet, dass es zu mundgerechten stücken verändert wird - das ist gewalt! Aber auch das ist gewalt, was die menschen am 11.september 2001 in New York erlebt und erlitten haben. Das eine ereignis, das ohne emotion zumeist nicht mehr als etwas besonderes wahrgenommen wird, so wie man ein glas wasser austrinkt, das andere ereignis, das einen schrecken verbreitet, der nicht fassbar ist, weil die phantasie es bisher nur den traumwelten von Hollywood zugestanden hatte.

Was aber unterscheidet diese beiden phänomene der gewalt voneinander? Das ist eine simple frage - die antwort aber ist komplex und beunruhigend zugleich. Ich denke, dass diese beiden phänomene der gewalt in ihrem sozialen kontext verstehbar und damit auch begreifbar sind.

Das zerschneiden des brotes ist eine tätigkeit, die notwendig ist, um die existenz eines individuums als ich zu sichern; für den reichen ist das eine vergessene selbstverständlichkeit, für den armen aber ist es ein kurzes glück, wenn er brot zum zerschneiden hat, das er dann essen kann. Das zerschneiden des brotes, oder wenn Ich es genauer im geschichtlichen kontext sage: das brechen des brotes ist eine gewalttat, aber sie ist in einem sozialen prozess eingebettet, und erst das fehlen dieser möglichkeit macht dem einzelnen bewusst, dass etwas fehlt, und er weiss, dass er das fehlende vom anderen, der es hat, einfordern kann. Er hat gegen den anderen einen anspruch darauf, den der andere als für sich selbstverständlich ansieht und darum jedem anderen nicht verweigern kann. Wer hat, der muss dem anderen davon geben, damit dieser so leben kann wie er selbst leben will; denn was er selbst ist, das kann der habende nur sein, wenn er seinen anderen, der es nicht hat, als den anerkennt, was er ist, der andere, so wie er selbst zu dem anderen, der wie er selbst ist, der andere ist. Diese wechselseitige abhängigkeit, die unterschiedliche und auch divergierende interessen miteinander relationiert, muss von beiden, den habenden und dem nichthabenden gelebt werden, dass jeder zu dem kommen kann, was er von seinem anderen erwarten und verlangen kann. Ohne konflikte ist dieser ausgleich der interessen nicht zu leisten, und damit er glückt, haben die menschen etwas erfunden, was in der moderne immer noch, wenn auch ein wenig ausser der mode, mit dem terminus: politik, gekennzeichnet wird. Auf dem markt der polis, also öffentlich, müssen alle ihre legitimen interessen geltend machen und gegeneinander zum ausgleich bringen, so dass jeder nach getaner arbeit zu sich zurückkehren und sagen kann, ich habe gegeben, was ich zu geben, und ich habe erhalten, was ich zu erhalten hatte. Eine idylle? - nein! Das ist die bedingung, dass der mensch von sich sagen kann, er ist ein vernunftbegabtes wesen, das eine humane welt gestalten kann.

Sehr schön! - so geht der einwand, und was ist mit jenen, die sich der idylle verweigern und diese bedingung nicht akzeptieren wollen? Jene, die sich verweigern, behaupten, dass ihre interessen allein die wahren und gültigen interessen der welt sind, und daraus leiten sie ihren anspruch ab, jeden, vernichten zu dürfen, der diesen sogenannten wahren interessen keinen platz einräumen will, mehr noch, diese ungläubigen und heiden vernichten zu müssen, vorausgesetzt, sie verfügen über die einschlägigen gewaltmittel. Ich ignoriere nicht das faktum, dass es individuen gibt, die so denken, aber das faktum ihres denkens legitimiert niemals ihre gewalttaten, noch legitimiert es jene gewalttaten, die als prävention für notwendig angesehen werden, diese gewalttaten zu verhindern. Ich verneine nicht das notwehrrecht, dass Ich als die conditio sine qua non der eigenen existenz ansehe, ohne die alles reden von der humanität dummes geschwafel ist, aber das notwehrrecht begrenzt die erforderliche gewalt allein darauf, die unmittelbare gewalt mit gewalt abwehren zu dürfen, bis hin zur möglichkeit den angreifende gewalttäter zu töten. Das notwehrrecht, sei es als das persönliche notwehrrecht eines individuums als ich oder das des sogenannten staatsnotstandes, ist aber keine ermächtigung, quasi im vorgriff alle tatsächlichen und möglichen gewalttäter auszurotten. Wer so denkt, denkt in den kategorien der rache. Das rächende ich befriedigt seinen hass an allen, die es als objekt erreichen kann, den täter ebenso wie jene, die es zum sozialen umfeld des täters rechnet, und da es zumeist den täter nicht fassen kann, sei es, weil er bereits tot ist, sei es, weil er sich (noch) erfolgreich verbergen kann, hält das rächende ich sich an jene, die es in seinen hass eingeschlossen hat. Der rächer ist strukturell unfähig, politisch zu handeln; er kann nackte gewalt nur mit blinder gewalt abwehren.

Das politische handeln schliesst gewalt im sinne des notwehrrechts nicht aus. Aber diese gewalt ist auf den unmittelbaren bereich des geschehens beschränkt. Mit dem zeitlichen abstand zum gewaltereignis schwindet seine legitimität, und an seine stelle tritt eine andere überlegung, die nur im kontext der politik realisierbar ist. Die politik, für die der markt der polis das muster ist, ist keine beliebigkeit, in der jeder meint, tun und lassen zu können, was gerade beliebt; politik ist vielmehr die strikte bindung aller an einen konsens, auf den sich alle, die es betrifft, autonom verständigt haben. Dieser konsens schliesst zwangsmassnahmen gegen jene, die die regeln verletzen, ebenso ein, wie die freiheit sich entfalten zu können, ohne dem anderen etwas wegzunehmen. Wer gewalt anwendet verletzt die normen des konsenses, und die gemeinschaft ist befugt, diesen mit zwangsmitteln in die schranken zu weisen, die er als mitglied der konsensgemeinschaft akzeptiert haben muss. Ein gewisser Osama bin Laden, seine geistlichen einflüsterer und helfershelfer haben diese regeln verletzt, und es ist sinne des von mir vertretenen politikbegriffs notwendig, sie für ihre verbrechen mit sanktionen zu belegen und künftig daran zu hindern, gegen die gemeinschaft der menschen gewalt zu üben....

Halt! wird hier mancher schreien; worin unterscheidet sich dieses handeln von dem eines gewissen O. und anderer endzeitprediger? Man argumentiert, dass das recht auch nur eine form der gewalt ist. Ich bestreite nicht, dass nackte gewalt sich als recht camouflieren kann - das NS-regime in Deutschland 1933-1945 ist ein beispiel - aber damit ist die gewalt kein recht geworden, auch wenn sie rechtsförmig erscheint. Recht setzt immer den konsens der sich rechtlich bindenden individuen als ich voraus, und dieser konsens hat nur dann bestand, wenn jeder seinen anderen als den anderen anerkennt, und das schliesst gewalt im sinne meiner definition aus, nicht aber definierte zwangsmittel, die jeder akzeptiert hat, wenn er den konsens akzeptiert hat.

Nun könnte ein weiterer einwand sein, dass sich individuen wie der gewisse O. und seine gefolgschaft gerade des konsenses verweigern, den sie als die westliche kultur, der der USA vor allem, attackieren. Sie wollen sich ja erklärter weise nicht in diese kultur konsensuell einbinden, und das sei ihre autonome entscheidung, die Ich und alle, die meinem argument zustimmen können, zu akzeptieren haben, wenn sie konsequent sein wollen. Dieser einwand ist falsch, weil der einwand die legitime kritik der westlichen kultur mit der verneinung jeder kommunikation der menschen untereinander verwechselt, die auf dem planeten erde miteinander existieren müssen. Der gewisse O. und seine gefolgschaft irren, wenn sie meinen, dass sie mit ihrer kritik der westlichen kultur auch die kommunikationsgemeinschaft der menschen aufgekündigt haben. Gerade indem sie die werte des islams gegen die der westlichen kultur behaupten wollen, akzeptieren sie implizit die regeln der kommunikationsgemeinschaft und damit ihres konsenses, der jedem ich die autonomie der entscheidung belassen muss. Indem sie aber ihren anspruch absolut setzen, zerstören sie notwendig die autonomie jedes anderen, und das ist mit dem begriff des konsenses logisch unvereinbar. Sie sind, wenn sie ihre meinungen realisieren wollen, also prinzipiell kommunikationsunfähig und damit strukturell unfähig, politisch zu handeln; sie können, wenn sie die mittel dazu in der hand haben, ihre interessen allein mit gewalt gegen die interessen der anderen realisieren.

Mein argument ist aber noch nicht vollständig; diese überlegung darf nicht untergehen: alle, die dem konsens der kommunikationsgemeinschaft sich verpflichtet fühlen, sind keineswegs legitimiert, die individuen als ich, die aus welchen motiven auch immer, die regeln verletzen, als paria zu qualifizieren, die man wie hunde totschlagen - heute muss man sagen, totbomben darf und muss. Wer so denkt, will betrügen und macht sich mit dem gemein, das er mit grosser moralischer geste verurteilt. Das politische handeln muss den ausgleich der divergierenden interessen zum ziel haben, und dieser ist mit gewalt nicht erreichbar. Aber welche mittel haben die politisch handelnden dann noch zur verfügung? - es ist vielleicht nur wenig und es scheint gegen die gewalt ohnmächtig zu sein, aber das wenige ist sehr viel, weil es stark ist. Das mittel ist der wille aller, den am konflikt beteiligten den zugang zu den gewaltmitteln zu versperren, um ihnen die chance zu geben, sich auf ihre stärke zu besinnen, konflikte argumentativ im interesse aller aufzulösen.

Zusatz:
In der gegenwärtigen diskussion um die sicherheit wird alles mögliche, zumeist für die bürgerlichen freiheiten unzuträgliches gefordert, nur eines fehlt in den wohlfeilen katalogen der bemühten politiker: die einschränkung des waffenhandels, des privat organisierten wie des staatlich betriebenen. Das scheint aber den interessierten mit dem prinzip des shareholdervalue nicht vereinbar zu sein - und zumindest darin haben sie recht, aber das kann der maasstab für eine humane welt nicht sein.

stand: 01.11.30.

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