TEXTSAMMLUNG
das argument des monats / 04/02  april-juni/2002

erklären - verstehen - rechtfertigen

Unvorstellbares, unfassbares war geschehen. Onkel Duck, ein reicher, ein mächtiger mann, der sich allen in seinem dorf als harter wohltäter zeigte, war in seinem haus, das grösste im dorf, ermordet worden. Der täter, ein fremder, war in sein haus eingefallen, hatte sich in die luft gesprengt und mit dem einstürzenden haus den onkel Duck in den tod gerissen. Später, nicht weitab von den trümmern, fand man einen zettel, auf dem noch wortfragmente zu lesen waren: vergeltung ... tod dem dieb D... und mörder ... im namen des gott... s. Gross war das entsetzen im dorf und in der umgebung. Entschlossen und uneingeschränkt solidarisch wollte man das böse nun überall ausrotten, ein für alle mal. Einige im dorf aber waren zögerlich, sie meinten, man müsse erst einmal das geschehene erklären, dann verstehen und schliesslich könne man die täter zur verantwortung ziehen. Die dörfler waren zornig, einige raunten, diejenigen, die so reden, rechtfertigen das geschehene, ja sie könnten sogar mit dem feind gemeinsame sache machen.

Nur eine geschichte? - eine sache, die immer wieder so oder ähnlich vorkommen könnte? - vielleicht.... Als erfindung reagiert sie auf erfahrungen, die Ich täglich mache. Eine tat, und gerade die unfassbare, schreckliche tat erklären, sie aus dem unmittelbaren geschehen herausnehmen und zu versuchen, sie zu verstehen, wird mit dem versuch, das geschehene zu rechtfertigen, gleichgesetzt. Die kritische distanz, die mit jeder erklärung und deutung eines geschehens verknüpft ist, wird in eine latente mittäterschaft umfunktioniert. Das muss nicht immer böse kalkulierender wille sein, dummheit und unwissenheit bewirken ähnliches. Auch das ist aufklärung, die begriffe zu definieren und in ihrer funktion festzulegen.

Wer ein geschehen, eine bestimmte tat, und mag sie noch so schrecklich und unfassbar sein, erklärt, macht sich mit der tat noch lange nicht gemein. Er zeigt nur auf, was geschehen ist; er stellt sachverhalte fest, indem er im horizont seiner welterfahrung kausalitäten zwischen bestimmten fakten konstruiert und diese konstatiert. Im prinzip ist das die arbeit jedes staatsanwalts, der ein verbrechen aufklärt. Es wäre absurd, den aufklärer mit dem täter zu vergleichen, gleichzusetzen oder gar zu identifizieren.

Wer die tat verstehen will, verknüpft die festgestellten fakten mit konkreten wertvorstellungen, die in systemen verortet sind, die das pro und contra scheiden. Zwei bewertungsschemata stehen einander gegenüber: das des täters und das des beurteilers der tat. Das problem ist die abgrenzung der unterschiedlichen vorstellungen gegeneinander; denn jedes bewertungsschema hat sein recht in der autonomie des ich, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Diese bewertungsschemata, gemeinhin nach religionen und weltanschauungen unterteilt, sind unter dem terminus: ideologie, hinlänglich bekannt. Auf der ebene des verstehens, der ideologien, die als phänomene zueinander nicht immer kompatibel sind, werden die möglichkeiten gegeneinander abgewogen, die die beteiligten kennen, der täter ebenso wie seine beurteiler.

Wer eine tat rechtfertigt, der akzeptiert das wertungsschema des täters; er macht sich mit ihm gemein. Er will, dass die wertvorstellungen des täters auch für ihn gültig sind. Wer die tat eines anderen rechtfertigt, ist damit keineswegs auch der täter dieser tat, aber er gibt allen anderen kund, dass er will, dass, wie Kant das formuliert hatte, die maxime des täters auch für ihn als ein allgemeines gesetz gültig sein soll. Damit ist ein kriterium gesetzt, das anzeigt, womit andere rechnen können.

Die begriffe sind klar, nicht aber die phänomene, die sie unterscheiden. Der konkrete fall ist immer verwickelt, weil die momente des erklärens, verstehens und rechtfertigens nicht einfach voneinander abgelöst, also analytisch eindeutig dargelegt werden können, sondern synthetisch als ein ganzes erfasst werden müssen. Jede erklärung, jedes verstehen und auch jede rechtfertigung ist in die anderen momente eingebunden. Wer etwas erklärt, der vertraut darauf, dass die kausalität, die festgestellt worden ist, auch gültig ist. Wer das feststellte, also eine kausalität, verstehen will, der ist immer von einem bewertungsschema geleitet, das wie ein zensor gemäss des Palmström-prinzips des Christian Morgenstern, die möglichkeiten zulässt, fordert oder verbietet: was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. Wer etwas rechtfertigt, der ist oft genötigt, die erklärung und/oder die bewertung des geschehenen, seinem wollen anzupassen, und diese handlung ist eine entscheidung, die allein das ich verantworten kann. Es ist also notwendig, genau hinzusehen, auf welcher argumentebene die am diskurs beteiligten ihr argument geltend machen - der moralische eifer ist immer wohlfeil.

stand: 02.06.28.

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