TEXTSAMMLUNG
das argument des monats
ausgabe: 01/03
januar-märz/2003

autonomie und bürgerliche freiheiten.
Die idee der selbstbindung als fundament der zivilgesellschaft.

Freiheit - ein schlagwort, einerseits in unerreichbare sphären erhöht, andererseits schamlos für partikulare interessen missbraucht. Ich ziehe es vor, die unterschiedlichen phänomene, die mit dem terminus: freiheit, bezeichnet werden, mit zwei termini zu kennzeichnen, um zumindest den missbrauch meiner vorstellungen zu erschweren; verhindern kann Ich den missbrauch nicht, wenn der andere es in böser absicht will, und diese böse meinung muss Ich ihm, wenn Ich meinen gedanken konsequent durchhalten will, als seine autonome entscheidung ebenso zugestehen und akzeptieren, wie Ich meine autonomie behaupte und erwarte, dass der andere sie mir zugesteht und akzeptiert. Damit habe Ich den zweiten terminus genannt. Ich unterscheide zwischen der autonomie des ich und den bürgerlichen freiheiten. Das sind zwei für sich bestehende vorstellungen des ich, die allein in der wechselseitigen relation zueinander die positiven wirkungen befördern und die negativen wirkungen vermindern können.

Die differenz der beiden vorstellungen ist die idee, dass die autonomie des ich die situation der entscheidung kennzeichnet, in der das ich absolut frei ist, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, aber für das eine oder das andere muss es sich entscheiden, tertium non datur. Mit der entscheidung für das eine oder andere hat das ich in raum und zeit sich an seine entscheidung gebunden, das positivierte eine gilt, das negierte andere sinkt zurück in die indifferenz neuer entscheidungsmöglichkeiten. Die bürgerlichen freiheiten dagegen sind immer gebundene freiheiten, in raum und zeit an einen grund gebunden, den legitim nur das ich in seiner autonomie setzen kann. Der gesetzte grund, was immer sein grund sein mag, ist das maass, an dem sicher beurteilt werden kann(1), ob die handlung eines ich in den grenzen seiner legitimen bürgerlichen freiheiten einzuordnen ist oder nicht. In den rechtsordnungen der gesellschaften haben die gesetze die funktion des grundes, die jedem mitglied der gesellschaft in der form von rechten seinen legitimen freiheitsraum bezeichnen; dieser kann in liberalen gesellschaften sehr weit ausgezogen, in paternalistischen gesellschaften dagegen sehr eng bemessen sein.

Die beiden freiheitsbegriffe haben eine spezifische funktion, dessen sinn nur in der gegenübersetzung zweier prinzipe(2) begriffen werden kann, die eine balance zwischen den zwei widerstreitenden momenten konstituiert, und die in der sozialen realität fragil ist, weil sie im leben der beteiligten gesellschaftsmitglieder von diesen immer wieder neu aktiviert werden muss. Das ich kann, wenn es ein ich, oder im traditionellen sinne, ein subjekt sein will, weder seine autonomie abtreten noch auf seine bürgerlichen freiheiten verzichten. Seine autonomie, zwischen a unb b entscheiden zu können, ist die bedingung seiner existenz als ich. Das ist ein postulat der vernunft, für das das ich letztlich keine begründung mehr geben kann, weil es den regressus in infinitum durch eine setzung, die auf begründetes zurückgreift, abbrechen muss. Würde Ich diese bedingung aufgeben, von der Ich weiss, dass sie im sinne des zirkelarguments den welthorizont nicht überschreiten kann, dann würde Ich das negieren, was unter dem terminus: subjekt, zum bestand der tradition der abendländischen kultur gehört. Der kern seiner autonomie ist die entscheidung zwischen a und b, wobei durch kein moment determiniert sein kann, nach welcher seite die entscheidung des ich fallen wird. Für diese situation sind die kategorien des raumes und der zeit nicht gültig. Das ich aber unterliegt in seinem bewusstsein von sich selbst den kategorien der zeit und des raumes. Wenn das ich sich entscheidet, dann entscheidet es sich für das a gegen das b oder das b gegen das a, und in dieser entscheidung bindet es sich unlösbar an das a gegen das b oder das b gegen das a, indem das jeweils ausgeschlossene unbestimmt in die indifferenz der entscheidungsmöglichkeiten zurückfällt und damit das fenster für eine neue entscheidungssituation des ich öffnet. Seine entscheidung für das a gegen das b oder das b gegen das a bedeutet dem anderen, dass für das ich nur das in der entscheidung positiv gesetzte gelten soll, und dass das negierte, was immer es sein mag, nicht gelten kann. Der andere kann mit dieser entscheidung kalkulieren solange, bis das ich seine entscheidung, aus welchen gründen seiner lebensumstände auch immer, öffentlich revidiert(3). Das schafft eine neue situation, die eine neujustierung der relationen zwischen dem ich und seinem anderen erforderlich machen kann.

Die funktion der bürgerlichen freiheiten ist es, die relationen des ich zu seinem anderen unter der bedingung der autonomie des ich zu ordnen. Diese ordnungen schaffen die individuen als ich im konsens aller, die es betrifft. Das fundament dieser ordnungen ist der konsens darüber, dass die autonome entscheidung der individuen als ich, jedes für sich, gilt. Das ziel dieses konsenses ist der ausgleich der interessen, die die individuen als ich, jedes für sich, autonom formulieren, und deren durchsetzung immer nur im konzert mit den anderen möglich ist(4). Das ich kann seinen anspruch auf die durchsetzung bestimmter interessen nur dann geltend machen, wenn es die interessen des anderen in derselben weise anerkannt hat, wie es von dem anderen erwartet, dass der andere seine ansprüche respektiert. Das entscheidende moment dabei ist, dass das ich sich an diese wechselseitigkeit der ansprüche und erwartungen gebunden hat; es ist damit in seinen entscheidungen, wie es mit den anderen umgehen will, nicht mehr frei. Das ich muss die einschränkungen, die es akzeptiert hat, erfüllen, oder es muss sich, wenn es diese einschränkungen nicht hinnehmen will oder kann, aus der bindung lösen. Mit der aufkündigung der bindung an eine bestimmte konsensgemeinschaft ist das ich kein mitglied dieser konsensgemeinschaft mehr, sondern es hat sich in einer neuen autonomen entscheidung einer anderen angeschlossen(5) und - das sollte nicht unterschlagen werden - deren bedingungen unterworfen; es hat bestimmte bindungen gegen andere ebenso bestimmte bindungen ausgetauscht. Im blick auf die unausweichlichkeit der bindung sollte nicht übersehen werden, dass das ich, indem es sich bindet und gebunden hat, seine autonomie nicht abtritt; es akzeptiert mit seiner autonomen entscheidung aus vernunftgründen und aus pragmatischen gründen eine ordnung, die einerseits seine willkür beschränkt, andererseits aber in der sichernden beschränkung exakt diese willkür sichert. Die gewollte ordnung ist als resultat kein besitz, der wie ein schatz verwahrt werden könnte, sondern es ist ein versprechen, das das ich in seinem leben realisieren soll.

Und - so wird man einwenden - wo bleibt die realität?  Diese ist kein einwand, wohl aber ein hinweis, dass die menschen ihr versprechen noch einlösen müssen(6).

anmerkungen:

(1)

die praktischen seiten der bewertungen lasse Ich hier beiseite, aber was immer auch die argumente der im streit liegenden parteien sein mögen, im diskurs um das richtige handeln müssen alle beteiligten ohne ausnahmen die regeln des diskurses beachten, die durch den konsens gestiftet sind.  <--//
(2)
die prinzipe stehen zueinander in der relation des gegensatzes und nicht in der des widerspruchs (gemäss des 2.logischen axioms, des satzes vom widerspruch). Die autonomie des ich und die bürgerlichen freiheiten sind phänomene, und diese stehen zueinander allein in der relation des gegensatzes, anders die begriffe, mit denen das ich die phänomene voneinander unterscheidet; diese stehen zueinander in der relation des widerspruchs. In diesem sinn sind die autonomie des ich und die bürgerlichen freiheiten (gemäss des 1.logischen axioms, des satzes von der identität) jeweils anderes, aber das eine oder das andere sind sie (gemäss des 3.logischen axioms, des satzes vom tertium non datur). <--//
(3)
es wäre eine fehlinterpretation, dies mit der beliebigkeit gleichzusetzen und zu verwechseln. In den hochzeiten Heidegger's und Sartre's war es üblich gewesen von existenziellen entscheidungen zu schwafeln, und das heil der subjekte an solche entscheidungen zu binden; in den bürgerlichen gesellschaften ist die situation der entscheidung profaner. Auch in den ausnahmesituationen der existenz orientiert sich das ich an den fakten des moments, und in diesen momenten können die bürgerlichen freiheiten des ich durch die situation der gewalt auf null reduziert sein. Was in diesen situationen auch immer der fall sein mag, das ich kalkuliert, indem es aus seiner sicht mit dem maass des kleinsten übels operiert.  <--//
(4)
die utopie des konsenses scheint mit der vielbeschworenen realität in einem unüberbrückbaren gegensatz zu stehen; denn in diesen sogenannten realitäten gilt das recht, genauer, das faktum des stärkeren, der dem anderen seine bedingungen diktiert. Die unbestreitbare realität aber ist kein beweis dafür, dass der entwurf der utopie, der eine struktur beschreibt, deswegen schon falsch sein muss. Es wäre für die beurteilung der realität schon viel gewonnen, wenn dieses vorurteil des positivistischen denkens abgelegt werden könnte.  <--//
(5)
man mag einwenden, dass es dem individuum als ich nicht freisteht, sich aus der gesellschaft zu verabschieden. Dieser einwand scheint mir schief zu sein, wie das gerede vom ausstieg aus der bürgerlichen gesellschaft zeigt, das ein modisches geschwätz in der 2.hälfte des 20.jahrhundert gewesen war. Diese "jüngerInnen des ausstieg" verabscheuten zwar bestimmte formen des bürgerlichen leben (nachvollziehbar), aber auf einige bequemlichkeiten dieser verbal verachteten lebensweisen konnten und wollten sie nun auch wieder nicht verzichten, und sei's nur das asperin gegen den morgentlichen kopfschmerz nach der sonnenwendnacht mit honigmet und lagerfeuer. Der irrtum dieser aussteiger war und ist, dass mit dem abwerfen der bürgerlichen ketten nicht das grenzenlose reich der freiheit anbricht, sondern ein reich neuer, eben nur anderer begrenzungen beginnen wird....   <--//
(6)
die frage, was die menschenrechte sind und was ihr kanon ist, ist ein problem des konsenses in seiner konkreten ausgestaltung. Den aspekt habe Ich hier nicht thematisiert, folglich kann Ich meine konkrete antwort hier und heute offen lassen.  <--//
stand: 03.04.01.

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