TEXTSAMMLUNG
das argument des monats
ausgabe: 07/03  juli-september/2003

die ideologie des neoliberalismus und das reformgeschrei seiner ideologen.

Im establishment ist es chic geworden, von reformen zu sprechen - Ich korrigiere mich: zu schwafeln. Es gab einmal zeiten - das waren die legendären 68er - da war es ein verbrechen gewesen, von veränderungen einer politischen landschaft nur zu träumen, geschweige, eine gesellschaft umzubauen, die, oberflächlich modern und demokratisch, im kern die strukturen vor 1945 weiterpflegte. Der befund provoziert den verdacht, dass das reformgeschwätz der eliten von heute nur die camouflage für die ins werk gesetzte restauration der gesellschaft ist, die mit modernistischen versatzstücken, medial virtuos in szene gesetzt, das alte ideal der trennung von oben und unten, arm und reich zum prinzip der ordnung macht. In das bild passt die hatz auf die gewerkschaften ebenso wie die gottgleiche verklärung der kapitalmärkte. Das interesse der gewerkschaften auf besitzstandswahrung des kleinen wohlstandes ihrer klientel ist als partialinteresse so legitim wie das interesse der herrschaften von BDI und Co., die besitzstände ihrer klientel der gesellschaftlichen verantwortung zu entziehen. Es ist schon merkwürdig, wie die herrschaften des kapitals auf das prinzip der gleichheit pochen, um ihre pfründe zu sichern, zugleich aber das prinzip der gleichheit negieren, wenn die voraussetzungen wegbrechen, die das fundament jeder gesellschaft sind, denen weder der kapitalist noch der arbeiter sich entziehen können. Weder die nivellierte gesellschaft nominal gleicher kann das faktische wohl ihrer mitglieder sichern (das war der irrglaube jener sozialisten, die meinten, auf Karl Marx sich berufen zu können und historisch kläglich gescheitert sind), noch kann eine in arm und reich zerfallene gesellschaft das faktische wohl aller schaffen (das ist der irrglaube der kapitalisten, die, weil shareholdervalue-schädigend, ihren Adam Smith vergessen haben). Gesellschaften, die formell als einheit erscheinen, faktisch aber in zwei (oder mehr) subgesellschaften gespalten sind, waren schon immer, wie die historia es hinreichend belegt, brutstätten der gewalt, gleichgültig, ob diese von oben oder von unten geübt wird.

Sowohl die subjektiven beobachtungen, das sind die sogenannten weichen fakten, als auch die objektiv durch anerkannte statistische methoden erhobene zahlen, das sind die sogenannten harten fakten, belegen, dass in der globalisierten welt 2003 die gesellschaften in arm und reich zerspalten sind - nur der grad der aufspaltung ist streitig. Wenn Ich der bekannten weltgeschichte traue, die eine geschichte der sogenannten grossen mächte ist, dann waren die gesellschaften schon immer in arm und reich aufgespalten (früher waren es die herren und sklaven). Das von einem gott verhängte schicksal war in der alten zeit die rechtfertigung der spaltung, die moderne erfand dafür die ideologie des kapitals, die das geschick privatisiert. Das problem ist nicht die ideologie(1), die die faktisch vorhandenen strukturen der gesellschaften legitimieren soll und so eine ordnung etabliert, die jedem individuum als ich die chance eröffnet, seinen ort in der gesellschaft zu finden, faktisch aber jedem gesellschaftsmitglied den ort zuweist, mit dem es sich nolens volens arrangieren muss. Die ideologien unterscheiden sich allein darin, wie sie ihre funktion realisieren, und der befund ist ernüchternd: jede historisch bekannte form der ideologien hat die hoffnungen ihrer anhänger unbefriedigend gelassen und für die zukunft ist anderes nicht zu erwarten(2). Weder die ideologien der hoffnung (das sind vor allem die drei grossen
monotheistischen religionen und der im geist der aufklärung formulierte liberalismus) haben die erwartungen der massen materiell befriedigt, noch ist dies das ziel der ideologien des kalten interesses, die die ungleichheit aller zum prinzip erklären und jede ordnung dem kalkül der macht unterstellen, in dem die hoffnung ein rechenstein ist, der nach belieben verschoben werden kann.

Der ideologie des neoliberalismus ihre "soziale kälte" als mangel vorzuwerfen, belegt nur die unkenntnis seiner kritiker(3). Zwar berufen sich die ideologen des neoliberalismus(4) auf den klassischen politischen liberalismus des 19.jahrhunderts, aber ausser der worthülse: freiheit, haben diese weltanschauungen nichts miteinander gemein. Das ziel des klassischen liberalismus war die beseitigung der ständischen ordnung, die jeden, könig wie untertan, zu einem funktionierende glied seines standes degradiert hatte. In einer von ständischen fesseln befreiten gesellschaft sollte jeder ein selbstbewusstes individuum als ich sein können, das autonom sein geschick schafft(5). Auf dieses ziel instrumentalisierte die theorie die ökonomischen marktstrukturen; daher ist vieles in der theorie des klassischen liberalismus nur aus der position der entgegensetzung und verneinung begreifbar, die einen veränderungsprozess leiten soll, der ohne das, was verändert werden soll, nicht begreifbar ist. Insofern begreife Ich den klassischen liberalismus als eine theorie, die einen nicht abgeschliessbaren prozess zum gegenstand hat, der immer ein projekt in arbeit sein wird.

Im kalkül der ideologen des neoliberalismus ist das ziel auf "den sich selbst regulierenden markt" eingedampft. Mit der parole: deregulierung der märkte, wird das bild einer sozialen ordnung gezeichnet, die durch keine gesellschaftlich gesetzen ziele(6) in seinem getriebe gehemmt werden soll; die menschen laufen, wie die hamster in ihrem laufrad der chimäre: geld, nach. Auf den börsen der globalisierten welt wird nicht mehr vulgo mit rüben und champagner gehandelt, sondern auf pump gestylt mit derivierten derivatoptionen auf fallende und steigende aktienkurse spekuliert, und die reale arbeit? - sie verschwindet in den schwarzen löchern der spekulation(7). In seiner bindungslosigkeit ist die vergottete freiheit deregulierter märkte eine beliebigkeit, die jede einordnung dessen, was auf den märkten geschieht, unmöglich macht; es ist die restauration eines zustands, in dem der sich stärker dünkende den schwächeren verdrängt, bis er selbst einem noch stärkeren zum opfer fallen wird(8). Auf diesem fundament ist keine gesellschaft auf dauer in seiner existenz sicher und die zustände wechseln ab wie die wasserstände eines flusses.

Ich ignoriere nicht das faktum, dass die achsen der gesellschaften in der welt 2003 verschoben worden sind, die eine zweckmässige anpassung der menschen an diese veränderungen erfordern. Insofern ist der ruf nach reformen plausibel und ihre umsetzung erforderlich(9). Insofern ist die stimme der neoliberalen ideologen eine stimme im konzert der reformanstrengungen, aber es ist nur eine stimme; den anderen stimmen muss auch gehör verschafft werden, und, auch wenn es in einem auf den letzten modeschrei getrimmten mainstream altmodisch erscheinen mag, die utopie vom guten leben für alle darf nicht untergehen, wenn die rede von einer humanen gesellschaft noch einen sinn behalten soll. Denn die veränderungen der gesellschaft, die global konstatiert werden müssen, haben die menschen selbst geschaffen, und sie sind für die folgen verantwortlich. Daher kann es nur ein absurder gedanke sein, den prozess der veränderung der gesellschaften zu einem selbstzweck zu machen, der jeden blick auf das verstellt, was jeder, der sich als ein humanes wesen und ein subjekt seiner selbst verstehen will, für sich auch fordern muss. In der reformdebatte heute ist nicht die neoliberale parole der deregulierung der märkte das remedium akuter gesellschaftlicher verwerfungen, sondern die forderung des tages ist die setzung neuer ziele, die den menschen die sicherheit geben(10), dass ihre mühen nicht in den spielhöllen, vulgo börsen der welt, von den smarten herren und damen der demimondänen finanzwelt verzockt werden.

gedanken - auf dem rand notiert

(1) systematisch unterscheide Ich die religionen und die weltanschauungen als teilphänomene der ideologie. Die gebräuchliche gegenüberstellung: religion/ideologie, verdeckt das grundproblem, dass sowohl die religionen als auch die ideologien systeme der rechtfertigung faktischer ordnungen sind, wobei den religionen, aufgrund historischer erfahrungen der vorrang des alters gebühren soll, während in der moderne die ideologien oft als bastarde behandelt werden. Für diejenigen, die faktische ungleichheiten, weil gegenwärtig vorteilhaft, rechtfertigen wollen, ist diese rangordnung ein bequemes instrument, die jeweils opponente form als ideologisch oder reaktionär abzuqualifizieren.
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(2) die gründe dafür analysiere Ich in diesem essay nicht. <--//

(3) die verfechter des neoliberalismus verwechseln die soziale kälte mit der ratio, die in jedem system wirksam sein muss, wenn das ich ein system als ein ganzen erfassen will. <--//

(4) die dame: Thatcher, und die herren: Reagan und Kohl, waren nur die agenten des neoliberalismus im 20.jahrhundert, wenngleich ihre  wichtigsten, und was sie angerichtet haben, das ist heute die soziale realität der globalisierten welt. Sie waren die willigen helfer der herren des kapitals, und die hatten im nüchternen kalkül sich nicht lumpen lassen. Nun, die zeit ist fortgeschritten, die herren des kapitals haben das personal austauschen müssen und neue figuren bedienen die herren. Herr Schröder, bekannt als der "genosse der bosse", hat gute chancen, von späteren historikern auf ihren personallisten geführt zu werden. <--//

(5) der klassische liberalismus in der tradition der aufklärung ist eine groossartige utopie, und solcher utopien bedarf das ich, um in seiner gesellschaft sich bewähren zu können. Wenn diesen utopien raum gegeben wird, dann besteht die chance, dass alle dieses glück geniessen können, dass mit ihrem erscheinen in der welt verheissen worden war - aber, und das ist das implizite negative moment jeder utopie, nicht alle blütenträume werden so reifen, wie die träumer die welt sich vorstellen - es genügt der impuls, dass das, was ist, auch anders sein könnte, und der träumer mit der arbeit beginnt. <--//

(6) die regeln des marktes sind das echo der sozialen ziele, die jede gesellschaft, die ständische gesellschaft im alten stil oder eine moderne gesellschaft, setzen muss, wenn sie auf dauer bestand haben soll. Dem Adam Smith war dieses wissen noch geläufig, und auch den modernen ordoliberalen mit ihrem volkstümlichsten vertreter, Ludwig Erhard, war dieses wissen nicht gänzlich abhanden gekommen. Wohlstand für alle war die parole gewesen, die den markt auf ein ziel einschränkte, für das der markt ein mittel und nicht sein zweck war. <--//

(7) Ich zweifle, dass der deregulierte, der seiner freiheit sich selbst überlassene markt, ausser dem faktum, dass er in sich routiert, irgendeine zwecksetzung haben kann. Man spekuliert, und das geld ist auf zahlzeichen reduziert, die beliebig geworden sind. Der börsencrash 2001/2002 hat die ziffern des DAX zwischen 8000 und 3000 schwanken lassen, und die differenz zwischen hausse und baisse ist, dass derzeit die downs vor den ups die konjunktur haben. Ginge es auf den parketts der börsen der globalisierten welt um reale werte, dann dürften die zahlen des DAX heute die ziffer: 1500, nicht überschreiten (vorausgesetzt, dass die bezugszahl: 1000, zum zeitpunkt der einführung des DAX korrekt die wirtschaftsleistung der gesellschaft in einem zahlwert ausdrückt hat). Aber die börsen der welt sind keine orte des realen warenaustauschs mehr, es sind die spielhöllen eines vagabundierenden kapitals, das aller gesellschaftlich gesetzten ziele entbunden die menschen der welt terrorisiert. <--//

(8) Thomas Hobbes hatte dies in einer historisch nicht vergleichbaren situation als den kampf aller gegen alle beschrieben, in dem keiner seines lebens sicher sein konnte. Seine antwort auf die bürgerkriegssituation war die forderung nach einem staat, der stellvertretend für alle bindend normen setzen soll, damit jeder seiner existenz sicher sein kann. Was heute auf den globalisierten märkten des kapitals geschieht ist ein rückfall in die situation vor Hobbes - geändert wurde nur das erscheinen. Damals war es der reale bürgerkrieg, heute sind es die (feindlichen) übernahmen (im schönsprech: fusionen), die an den kapitalmärkten für kurzzeitige lösungen der konflikte sorgen, und die arbeit? - sie, nach Karl Marx der schöpfer des kapitals, gerät dabei immer wieder unter die räder (im schönsprech: synenergieeffekte). <--//

(9) es ist eine binsenwahrheit historischer erfahrung, dass die gesellschaften in der zeit sich verändern. Insofern ist der ruf nach reformen systemimmanent und damit nichts ungewöhnliches. Entscheidend aber ist, in welcher weise sich ändernde gesellschaften reformiert werden, und dies ist nur von den zielen her angemessen zu beurteilen, auf die eine gesellschaft reformiert werden soll. Die gegenwärtige reformdebatte in der BRD ist dadurch geprägt, dass die ziele entweder im nebel unverbindlicher floskeln verschwinden, oder mit den mitteln verwechselt werden, mit denen die nebulösen ziele realisiert werden sollen. Die reorganisation des gesundheitswesens oder der alterssicherung wird auf einzelmaassnahmen beschränkt, die den einen oder anderen prozentpunkt an einsparung bei den lohnkosten bringen sollen, aber die weise der reorganisation ähnelt eher dem zynischen spruch der mediziner: operation gelungen - patient tot. Die diskussion muss sich auf die ziele konzentrieren, dann sind die erforderlichen mittel auch bestimmbar, aber um die diskussion der zwecke drückt man sich herum, weil man nicht zugeben will, dass auf dem felde der gesundheit zum beispiel nicht alles realisierbar ist, was im einzelfall möglich wäre, weil die ressourcen der gesellschaft, auch in ihrem besten zustand, nicht ausreichen können, sie allen zukommen zu lassen. Es ist die rückseite des technologischen fortschritts, dass das, was technisch möglich geworden ist, von der gesellschaft als ganzes nicht realisiert werden kann. <--//

(10) die kritik an der agenda 2010 beklagt immer wieder die gerechtigkeitslücke, die zwischen der offenkundigen begünstigung des kapitals und der ebenso offenkundigen neubelastung der arbeit klafft. Es ist nicht nachvollziehbar, wie eine gesellschaft, die seit 1945 statistisch belegbar immer stärker in arm und reich zerfällt (mit der tendenz, dass die mitte in den extremzonen verschwindet) auf dauer gesichert werden kann, wenn in der gesetzgebung die lasten für das kapital faktisch gesenkt und die lasten für die arbeit immer mehr erhöht werden. Die reduzierung des spitzensteuersatzes für eine minderheit schaufelt dieser minderheit millionen in die tasche, die den arbeitslosen (d.i. ein aspekt der arbeit, und in der BRD werden diesem bereich heute faktisch 7 millionen menschen zugerechnet!) durch streichung der transferleistungen aus der tasche gezogen werden. Volkswirtschaftlich ist diese politik ein crashkurs, der die spaltung der gesellschaft vertiefen wird, an der die herrschaften Flick und Co. zu früh ihre klammheimliche freude haben werden, und, diese politik des sozialdemokraten Schröder ist nicht nur ein hohn auf die traditionswerte der sozialdemokratie (sicher keine schlechte tradition), diese politik wird auch die fundamente der sozialen ordnung in der BRD (mit fernwirkung auf Europa) zerstören, weil die menschen ihre kommunikationsfähigkeit verlieren werden - am ende des prozesses steht immer wieder nur eines: gewalt.  <--//
 

stand: 03.09.28.

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