TEXTSAMMLUNG
das argument des monats
ausgabe: (25)11-12/2010  november-dezember/2010 (blieb bis 10/2011 stehen)

Pacta sunt servanda - eine segensreiche formel, schamlos missbraucht.
Text und Subtext.

Text

Die alte regel: geschlossene verträge müssen erfüllt werden, seit Rom das fundament aller bürgerlichen rechtsbeziehungen(01), steht wieder einmal im streit, weil, im malstrom der moderne liegend, gelten soll, den eigenen vorteil gegen den vorteil des anderen auszustechen. Entgegen der gängigen meinung ist das projekt, bundesweit bekannt unter dem namen: Stuttgart21,(02) nicht der kern des politischen streits, sondern als kern des streits erscheint die funktion der regel, mögliche streitfragen zwischen gegensätzlichen interessen so miteinander zu händeln, dass mittels einer vereinbarung der beteiligten genau jene gegensätzlichen interessen in einer form verknüpft sind, dass der zweck der vereinbarung, nämlich der ausgleich gegensätzlicher interessen, erreicht werden kann(03). Auch sollte nicht unbeachtet bleiben, dass, wenn der zweck der regel reflektiert wird, ein zweites problem in den blick genommen werden muss. Der tatsächliche konflikt wird mit der alten rechtsregel einerseits nicht entschieden, andererseits kann diese regel in ihrer anwendung für andere zwecke missbraucht werden. Es erfordert keinen sonderlichen aufwand und anstrengungen, die alte rechtsregel: pacta sunt servanda, als vorwand zu benutzen, das heisst, sie als vorwand zu missbrauchen, um das interesse der einen vertragspartei gegen das interesse der anderen partei so auszuspielen, dass die eine vertragspartei zu lasten der anderen unter dem schein des rechts sich einen vorteil verschaffen wird(04). Wenn das der fall ist, dann mag der text des vertrages, identisch mit sich selbst, unverändert bleiben, das fundament des vertrags aber, nämlich der ausgleich divergierender interessen, ausgedrückt in den gleichlautenden willenserklärungen, wird bei geänderter interessenlage, aus welchem grund auch immer, so verändert, dass die existenz des vertrages dem zweifel unterfallen ist, der die anwendung der regel: pacta sunt servanda, ausschliesst. Die regel: pacta sunt servanda, ist das eine, etwas anderes ist aber die bessere einsicht, dass der gegenstand des streitig gefallenen vertrages de facto nicht mehr vorhanden ist. Wenn in dieser konstellation der gegensätzlichen interessen auf die strikte durchsetzung der regel gepocht wird, dann erscheint das gerede um den schönen satz als blanke gewalt, weil mit gleichem anspruch, aber im entgegengesetzten interesse, die eine vertragspartei, auf den text des vertrages pochend, die buchstäbliche erfüllung einfordern kann, die andere vertragspartei aber mit gleichem anspruch den wegfall der conditio des vertragsschlusses behauptet, der durch die entwicklung der fakten in raum und zeit eingetreten ist. Ist diese konstellation der fall(05), dann ist die anwendung der alten regel: pacta sunt servanda, ausgeschlossen, weil die voraussetzung für seine anwendung objektiv entfallen ist(06). Der vertrag mag als dokument der historia noch existent sein, aber die bedingung des vertrages, seine conditio sine qua non, also der konsens der beteiligten parteien, besteht nicht mehr und was real ist, das ist der dissens der vormaligen vertragspartner(06). Im dissens aber ist alles möglich, nur eines nicht, die auflösung eines realen konfliktes, der eine in die zukunft gerichtete planung zum gegenstand hat, die der vernunft verpflichtet sein sollte(07).
Subtext
(01)
dem bürgerlichen vertrag gleich steht der beschluss der legitimierten institution des staates und analog kann gesagt werden, dass der beschluss des staatlichen organs, wenn die repräsentative demokratie funktionieren soll(*1), durchzusetzen ist. Das fundament des demokratischen rechtsstaat bleibt aber nur dann sicher, wenn die ratio einer staatlichen entscheidung, nicht anders der bürgerliche vertrag(*2), beständig, die realität konfrontierend, überprüft wird. Den korrekten beschluss eines legitimierten staatsorgans nicht zu beachten und/oder ihn nicht durchzusetzen, kann unter den definierten bedingungen rechtswidrig sein(*3), aber es ist als ein verbrechen zu beurteilen, den korrekten beschluss wider die vernunft durchsetzen zu wollen, wenn fehler im geplanten projekt erkennbar sind(*4); denn in der zeit klüger zu werden, kann niemals ein fehler sein, wohl aber ist es ein fehler, der besseren einsicht nicht zu folgen, auch dann, wenn die schönen pläne makulatur werden.
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(*1)
es ist ein durchsichtiges spiel, wenn die nomenklatura der republik ihre befürchtungen in gesetzten floskeln artikuliert und drohend behauptet, dass die proteste gegen das projekt: Stuttgart21, die repräsentative demokratie gefährden, einige meinen sogar, "die strasse" habe die meinungsführerschaft bereits übernommen. Nicht der protest gegen die obrigkeit, die widersinnig gewordene planungen durchsetzen will, zerstört die struktur der demokratischen ordnung, sondern die struktur der demokratischen ordnung ist zerstört, wenn hinter der fassade des parlamentarischen scheins, dem schönen, die in der verfassung normierten regeln der normsetzung unterlaufen werden und den lobbyisten jedweder couleur die chance eröffnet ist, klammheimlich die gesetze zu schreiben, die dann in öffentlicher sitzung von den vertretern, den sogenannten repräsentanten des volkes, abgenickt werden. Ohne das wissen der experten kann die moderne gesellschaft in ihrer verwirrenden komplexität nicht mehr geordnet werden, aber was der zweck in der gesellschaft ist, das wird nicht durch das wissen der experten entschieden, sondern entscheiden muss das individuum als ich, der bürger, was sein zweck sein soll, und diese zwecke, die in ihrer interessengeleiteten begründung gegensätzlich sein können, müssen in einem öffentlichen verfahren gegeneinander abgewogen werden.    <==//
(*2)
im aktuellen streit um das projekt: Stuttgart21, ist es offensichtlich eine unentschiedene rechtsfrage, was an den plänen des staats: Bundesrepublik Deutschland, des landes: Baden-Württemberg, der stadt: Stuttgart, und dem bauherren: die Deutsche Bahn-AG, öffentlicher beschluss ist und was bürgerlich-privater vertrag. Die Deutsche Bahn AG ist, das war sie einmal gewesen, keine behörde, sondern eine privatfirma, deren aktienanteile der staat: die Bundesrepublik Deutschland, zu 100% in der hand hat. Hier handelt der staat als fiskus und als dieser unterliegt er dem privatrecht. Als fiskus aber unterliegt der staat mit seinem privaten handeln ebenso den gesetzen, die von ihm, dem staat, legitimiert durch die verfassung, einseitig gesetzt worden sind. Hier liegt ein konflikt der interessen vor, deren gründe in den verschiedenen funktionen verortet sind, die der staat in seiner funktion, verkörperung der souveränität seiner bürger, als rechtssubjekt auszuüben hat. Genau diese immanente konfliktlage hatten die politiker(+) 1994 geschaffen, die die Deutsche Bundesbahn, eine behörde, juristisch privatisierten, ohne die Deutsche Bahn AG von der öffentlichen aufgabe, der daseinsvorsorge, freizustellen, weil der staat sich dieser aufgabe, verpflichtet durch die verfassung, nicht per einfachem gesetzesbeschluss entziehen kann.
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(+)
von den politikern, die 1991, als der plan: Stuttgart21, lanziert wurde, sich dafür stark gemacht haben, nenne Ich nur einen: Matthias Wissmann, der als bundesverkehrsminister die einschlägigen gesetze zu verantworten hat. Heute ist herr Wissmann der führerende verbandsfunktionär der autobranche und im hintergrund als lobbyist emsig tätig.    <==//
(*3)
über die rechtswidrigkeit entscheiden die gerichte nach geltendem gesetz, aber diese gesetze, und dieser aspekt sollte nicht aus dem blick fallen, sind als beschlüsse des staates, soweit der staat nicht als fiskus agiert, einseitige rechtssetzungsakte. Damit ist implizit gesetzt, dass der staat, geleistet durch seine organe, es immer in der hand hat, beschlüsse, die unter beachtung der verfassung gefasst worden sind, durch einen neuen beschluss zu korrigieren, das heisst einen solchen beschluss entweder ganz aufzuheben oder diesen an die neue situation anzupassen. Das ist, wenn man das laufende geschehen beobachtet, tagtägliche routine der legislativen organe. Es ist unehrlich, wenn politiker sich öffentlich aufplustern und auf die durchsetzung von einmal gefassten beschlüssen pochen, aber mit chuszpe, wenn's die geänderten interessen erfordern oder die verschiebungen im machtgefüge es erlauben, keine hemmungen haben, das, was einmal beschlossen worden war, auch auf den kopf zu stellen. Insofern sind, begründet mit anderen interessen, das projekt: Stuttgart21, und die geplante gesetzgebung: verlängerungen der laufzeiten für atomkraftwerke, spiegelbildlich reziprok vergleichbar und gleichzusetzen. Ich aber habe noch nicht gehört, dass frau Merkel und die verbandelte atomlobby den staat gefährdet sähen, wenn sie einträchtig daran arbeiten, einen gefassten parlamentsbeschluss von annodazumal heute aufzuheben, um eine neue rechtslage zu schaffen.   <==//
(*4)
es ist frappierend, das aktuelle verhalten derjenigen, die an dem projekt: Stuttgart21, stur festhalten wollen, mit dem verhalten gleichzusetzen, das gemeinhin mit dem spruch: "fiat iustitia, pereat mundus(+)" charakterisiert wird. Es ist ein moment der ratio sozialer beziehungen, dass das recht sich nicht darin erschöpfen kann, die normierten regeln buchstäblich einzuhalten, weil der zweck, der mit der anordnung oder vereinbarung realisiert werden soll, immer auch als korrektiv wirkt, wenn die regel ihre funktion, mittel zu sein, ausfüllen soll. Wenn die beteiligten auf grund besserer einsicht, das soll auch noch vorkommen, unsinnig gewordene planungen in frage stellen und entsprechend die regeln umformulieren, dann ist das kein ausdruck mangelnden respekts vor dem recht, sondern ausdruck der achtung vor dem gesetz, das die ordnung sichert. Das gesetz kann nur mittel sein, niemals zweck.
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(+) es werde gerechtigkeit, auch wenn die welt zugrunde geht. Eine andere juristische weisheit ist ergänzend hinzuzufügen: "summum iustitia, summum iniuria - absolute gerechtigkeit, absolutes unrecht".  <==//
(01)<==//
(02)
der streitpunkt im aktuellen fall ist die planung des projekts: Stuttgart21. Ich habe zum pro und contra dieses projektes meine meinung, aber diese meinung ist nicht der gegenstand meines arguments. Ich würde mich im dschungel der details verlaufen, wenn Ich auf einzelpunkte des umstrittenen projekts ausführlich eingehen würde, aber Ich kann es nicht vermeiden, einzelne punkte, es sind aspekte des problems, aufzugreifen, um den gegenstand meines arguments hinreichend zu erklären.  <==//
(03)
in analytischer absicht blende Ich die sachfragen des projekts: Stuttgart21, weitgehend aus und beschränke mich im argument auf die struktur der regel: pacta sunt servanda. Diese ausblendung der details ist methodisch zulässig, solange Ich es unterlasse, den streitfall in seinen politischen dimensionen, interessengeleitet in den zwecken, zu reflektieren, das heisst, Ich muss mich enthalten, das verhalten der beteiligten am streit, zu diesen gehöre Ich als beobachter auch, politisch zu bewerten. Das aufzeigen bestimmter strukturen des konfliktes sollte nicht mit der reflexion des politischen konfliktes verwechselt werden. Ein andermal könnte die reflexion dieses konfliktes der gegenstand eines anderen arguments sein.  <==//
(04)
was im bestimmten fall der vorteil der realisierung des plans sein könnte oder sein sollte, das will Ich bestimmt offen lassen, aber den verdacht, soweit die öffentlich gehandelten informationen nicht trügerisch sind, halte Ich für plausibel, dass nicht einmal die eifrigsten verfechter des projekts: Stuttgart21, wenn das projekt, wie derzeit geplant und vage kalkuliert, realisiert würde, erklären können, was konkret und exakt die vorteile(*) sein sollen oder sein könnten. Was derzeit erkennbar ist, und dafür gibt es historische beispiele, das sind die konkreten kosten des projekts, die, das projekt realisiert, dem prestige der macher, öffentlichen druck widerstanden zu haben, entgegenstehen werden. Die geschätzten anfangskosten, wirklich keine peanuts und immer zu niedrig angesetzt, dürften zu den faktischen kosten des realisierten projektes in keinem vernünftigen verhältnis stehen. In einer meldung, sicher nicht frei von interessen, wird die differenz bereits auf 10 milliarden Euro geschätzt und das beim derzeitig geschätzten kostenvolumen von ca.4,9milliarden Euro.
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(*)
für die gesellschaft? oder für bestimmte gruppen? oder für eine bestimmte person?  <==//
(05)
die kosten(*1), geschätzt und später real, sind im streit um das projekt: Stuttgart21, der fall. Die tatsächlichen kosten des projekts sind als konstitutives moment des vertrages nicht von der erfüllung des vertrages abtrennbar. In der abwicklung des vertrages müssen also die kosten kalkulabel bleiben, im fall: Stuttgart21, sind aber die zweifel begründet. Inzwischen wird, öffentlich bekannt oder noch nicht bekannt, ein gutachten zitiert(*2), das darauf verweist, dass die kostenschätzungen des projekts: Stuttgart21, mit der realität wenig gemein haben oder gar nichts.
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(*1) neben den kosten könnte ein anderer aspekt der fall sein. Es ist fraglich geworden, ob die prämissen der anfangsplanung im jahr: 1991, heute, bedingt durch die veränderungen in der struktur der ökonomie, reflexe der gesellschaftlichen entwicklung, im zeitablauf einer generation so weit verändert worden sein könnten, dass sie als fundament für die gegenwärtige planung nicht mehr akzeptiert werden. Das ist ein problem, das alle planungen in der grössenordnung von Stuttgart21 betrifft und die in ihrer zeitdimension eine generation und mehr umfassen. Der politiker des neuen stils, wendig im durch die nächste wiederwahl verhängten horizont, ist zu solchen planungen, das beweisen seine taten, nicht fähig.
(*2) Der Spiegel 41/2010, p.24-25.  <==//
(06)
den konkreten streitfall haben die gerichte zu entscheiden. Sie werden nicht nur die formalen aspekte der mit den verträgen und beschlüssen verknüpften streitfragen beurteilen, sondern sie müssen auch die materiellen streitpunkte in ihre überprüfungen einbeziehen. Was vor 10 jahren noch ein plausibles sachargument gewesen war, das kann heute oder gar in 10 jahren als fundament des plans schlicht entfallen sein. Ein durchgangsbahnhof ist offenbar zweckmässig, aber im blick auf die erfordernisse einer modernen bahninfrastruktur kann ein kopfbahnhof genauso zweckmässig sein und das ökonomische prinzip wird dann zum entscheidenden argument, wenn prognostizierbar ist, dass die konsensfähige lösung des problems, der scheinbar unmoderne kopfbahnhof, mit weniger geld genausogut erreichbar ist.  <==//
(07)
in teilen widersprechen die planungen des projekts: Stuttgart21, offenbar der vernunft. Der alternativentwurf: StuttgartK21, noch die realität im blick habend, ist, so scheint es, dem rationalen urteil angemessener, weil die maxime: maass halten(*1), in die erwägungen einbezogen wird. Es ist klug und notwendig, sich auf das erforderliche zu beschränken, wenn trefflich darüber gestritten werden kann, ob es einerseits ein signifikanter vorteil ist, die fahrzeiten zwischen Stuttgart und Ulm, das sind ca 90km bei einer spitzengeschwindigkeit von 350km/h, um ca. 10' zu verkürzen, oder, und damit sind die bahnkunden tagtäglich konfrontiert, andererseits die angebotenen fahrplanzeiten kalkulierbarer zu gestalten.
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(*1)
ein spruch Ludwig Erhard's, der etwa 1965 viel belächelt worden war. In dieser maxime ist mehr lebensweisheit versammelt als das geschwätz der futurologen fassen kann, die den weltuntergang prophezeien, der nach ihrer zwingenden logik eintreten müsse, wenn die schönen planzeichnungen zu Stuttgart21 in den schubläden der archive verschwänden - die dokumente der historia, vergleichbare fälle betreffend, beweisen aber anderes.  <==//
finis

stand: 11.11.15.
//eingestellt: 10.11.15.
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