TEXTSAMMLUNG

das argument des monats
ausgabe: (27)09-12/2012  september-dezember/2012/(blieb stehen bis 04/2013)

Die beschneidung als ritual und die zirkumzision als strafbare körperverletzung.
 

Das ritual der beschneidung, so sagen es die gelehrten der thora, ist ein konstitutives moment der jüdischen religion. Die dokumente der historia belegen eine 3000 jahre währende praxis(a). Dem steht entgegen, dass die zirkumzision körperverletzung ist, die strafbar gestellt sein kann. Dieses faktum ist bekannt, solange die beschneidung als ritual praktiziert wurde, aber diese form der körperverletzung als straftatbestand zu interpretieren, das ist ein gedanke, der erst in der neuzeit möglich geworden ist(b).

Auch heute ist das ritual der beschneidung kraftvoll wirksam, gleichwohl die theologische begründung des rituals in der substanz schwach ist(c). Der vollzug des rituals ist im heiligen text als gebot des jüdischen gottes statuiert(Moses1,21.4(Genesis)). Die vollzogene handlung der beschneidung wird in der theologischen auslegung als sigel des bundes zwischen dem gott: Jahwe, und seinem volk interpretiert(d).

Die rituelle handlung der beschneidung ist die eine seite des faktums, die andere seite des faktums ist die chirurgische handlung der zirkumzision(e). Der schnitt im körper verändert den zustand des körpers. Das faktum der veränderung im körper ist dokumentierbar, die dokumentierte veränderung des körpers als eine strafbare verletzung des körpers zu deuten, ist aber ein anderes faktum. Das sind zwei eindeutig unterscheidbare sachverhalte, deren begründungen nicht miteinander vermengt werden sollten. Der eine sachverhalt ist die dokumentation einer veränderung im körper, die zwei differente zustände des körpers gegeneinander stellt, zumeist in einer zeitlichen folge. Der zustand: 1, ist nicht der zustand: 2, und das, was für den einen zustand in teilen gilt, das gilt in teilen nicht für den anderen zustand. Zwischen den beiden zuständen des körpers können zwar kausale verknüpfungen behauptet werden, aber diese behauptungen können nicht über das hinausgehen, was in den differenten zuständen festgestellt ist. Der zweite sachverhalt ist die deutung der dokumentierten veränderung im körper. Die deutung des zustands: 2, als veränderung des zustands: 1, ist ein argument, das in den differenten zuständen: 1 und 2, nicht verortet sein kann, weil es bei dem subjekt zu verorten ist, das den zustand: 2, deutet. Die möglichen deutungen der subjekte sind in gleicher weise gültig, einerseits die handlung als ritual einer religion interpretiert, andererseits die handlung als zirkumzision, die eine strafbar gestellte körperverletzung sein kann, aber nicht sein muss(f).

Für jede denkbare interpretation des zustands: 2, mit sich identisch, können argumente geltend gemacht, die rational begründet sind, auch dann, wenn die handlung, mit der der zustand: 2, bewirkt worden war, gegensätzlich beurteilt wird. Das problem ist einerseits der konsens, dass die beschneidung als ritual nicht das resultat einer strafbaren handlung sein kann(g), andererseits ist die bewertung der handlung umstritten, die mit dem terminus: zirkumzision, bezeichnet wird. In der perspektive der strafbarkeit wird die faktische veränderung des körpers als resultat einer handlung beurteilt, die entweder strafbar sein soll oder nicht_strafbar. Beide einschätzungen sind möglich, weil die strafbarkeit einer handlung voraussetzt, dass ein grund bestimmt ist, der die strafbarkeit per gesetz festgelegt hat. Viele gründe können benannt werden, warum die zirkumzision in dem einen fall straffrei sein soll, in einem anderen fall aber mit strafe bewehrt wird. Ein grund für die strafbarkeit kann die schwere der verletzung sein, ein anderer grund der nutzen oder der schaden für den verletzten. Das gebot der strafbarkeit der verletzenden handlung kann im grad der verletzung impliziert sein, ebenso kann die einwilligung in die verletzung die strafbarkeit der handlung ausschliessen. Streitig diskutiert werden die fälle, in denen der grad der verletzung, die kosten/nutzen-abschätzung eingeschlossen, nicht eindeutig feststellbar ist. Diese abwägungen vorzunehmen ist die aufgabe des angerufenen gerichts. Streitig werden auch die fälle diskutiert, wenn die frage beantwortet werden muss, ob der verletzte aufgrund der umstände faktisch und rechtlich fähig gewesen war, rechtswirksam in die verletzung einzuwilligen. Ein teil der fälle ist durch gesetz und recht geregelt. Ein 8 tage altes kind wird rechtswirksam noch nicht einwilligen können, einem 14jährigen, der religionsmündig ist, kann die kompetenz zur entscheidung zugetraut werden. Dem recht des kindes steht das recht der eltern entgegen, die zur rechtswirksamen entscheidung nicht nur berufen, sondern auch verpflichtet sind. Das recht der eltern, stellvertretend für das kind zu entscheiden, ist durch das wohl des anvertrauten kindes beschränkt und die frage, ob der initiationsritus zum nutzen des kindes ist oder nur die glaubensüberzeugung der eltern stützen soll, bleibt in den antworten unentschieden(h).

Auch ist zu fragen, warum die zirkumzision überhaupt mit strafe bewehrt sein soll oder bewehrt werden muss. Das kosten/nutzen-kalkül ist nicht eindeutig bestimmt und die meinungen der mediziner in dieser sachfrage sind gegensätzlich. Dem äusseren anschein nach ist, anders als die verstümmelungen der weiblichen genitalien(i), die zirkumzision kein schwerer eingriff in die unversehrtheit des körpers. Der grad der verletzung kann ein argument sein, die verletzende handlung strafbar zu stellen, aber den abwägungen sind auch die gründe zugeordnet, die in den kulturen und ihren traditionen verortet sind, gründe, die nicht ignoriert werden sollten. Es mag sein, dass der Kölner straffall ein fall schwerer körperverletzung gewesen war, aber diesem fall stehen andere fälle entgegen, in denen die strafbarkeit der handlung mit ebenso guten gründen verneint worden war. Die zahl der fälle sollte kein argument pro oder kontra für die strafbarkeit der zirkumzision sein, aber die zahl der fälle rückt die frage nach der verhältnismässigkeit von tat und strafe in den fokus der reflexion. Es ist denkbar, dass die strafbarkeit der beschneidung, wie vom Kölner gericht entschieden, nicht gerechtfertigt werden kann, weil der eingriff in die unversehrtheit des körpers als gering zu bewerten ist, vor allem dann, wenn die gründe in der tradition durch lange übung als allgemeiner gesellschaftlicher konsens verwurzelt sind. Das ritual einer religion, über generationen geübt, ist ein solcher grund. Die zurückhaltung in einer komplexen gemengelage von religion, traditionen und motiven, fixiert auf das individuum als ich, dürfte dem sozialen frieden in der gesellschaft dienlicher sein als das prinzipienfromme pochen auf eine juristische rationalität, die nur durch das individuum als ich und seinem genossen vermittelt sein kann.
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(a)

die praxis der beschneidung ist im Nahen Osten verbreitet und die gründe für diese tradition sind unklar. Einerseits sind es medizinische argumente, andererseits gewohnheiten, die in religiösen gefühlen fundiert sind. Die praxis der mosaischen religion ist in der mohamedanischen religion übernommen worden, aber nicht mit dem theologischen gewicht, der im judentum das maass ist. Im christentum hatte die beschneidung keine rolle gespielt, weil das initiationsritual die taufe ist. Die unterschiedlichen bewertungen der beschneidung als ritual der religion sind ein indiz, dass aus der handlung der zirkumzision kein argument für die funktion dieser handlung in der religion zwingend ableitbar ist. In der tradition sind zwar enge verbindungen zwischen dem ritual und der physischen handlung entstanden, verknüpfungen, die vom individuum als ich geschaffen worden sind, das in seiner religion einen ruhepunkt gefunden hat.   <==//
(b)
mit dem urteil des Landgerichts Köln, 07/2012, ist die praxis der beschneidung als problem in den focus einer heftigen debatte gerückt worden, die für die sorge um das fortleben der jüdische kultur in Deutschland als warnender hinweis interpretiert werden kann, die beobachtung ist aber verwunderlicher, dass eine in generationen geübte praxis zum anlass genommen wird, eine rechtsfrage zu erörtern, die bisher kein streitiges problem gewesen war, trotz der erfahrung, dass die interpretation unerschütterlicher glaubenssätze einem permanenten transformationsprozess unterworfen ist, der, entleert von der überzeugung des glaubens, die wahrheit der theologischen sätze als fassade zurücklässt.   <==//
(c)
der theologe vom fach wird mir widersprechen. Es sollte aber beachtet werden, das die theologischen begründungen des rituals der beschneidung, in langer tradition gewachsen, einem technischen vorgang zugeordnet sind, der, für sich betrachtet, nichts mit theologie zu tun hat. Der schluss ist zulässig, dass aus dem technischen vorgang der zirkumzision für das ritual der beschneidung kein argument ableitbar ist, diese feststellung aber schliesst nicht aus, dass ein theologischer glaubenssatz mit diesem technischen vorgang verknüpft werden kann, eine verknüpfung, die der theologe vollzieht und so dem technischen vorgang die bestimmte theologische deutung als ritual zuordnet. Die notwendige frage ist, aus welchen quellen der theologe schöpfen kann. In der thora ist das ritual der beschneidung nur an einer stelle benannt. Die frage, ob die stelle für die theologie der jüdischen religion entscheidend ist, wird mit gegensätzlichen meinungen beantwortet.  <==//
(d)
kulturgeschichtlich ist die beschneidung ein initiationsritual. Die initiation hat die funktion, das heranwachsende gruppenmitglied durch die besondere handlung, immer in der form einer prüfung, als vollwertiges mitglied in die gemeinschaft zu integrieren. Im zweck der verwandlung ist eine veränderung impliziert, die durch ein äusseres zeichen kenntlich gemacht wird. Die gewollte verletzung des körpers ist das zeichen. Die skala der möglichen handlungen umfasst die symbolische handlung(01) ebenso wie die harte mutprobe, die bei bestimmten naturvölkern dokumentiert ist(02). Das faktum der körperverletzung ist nicht aus der welt zu disputieren, die bewertung der bestimmten formen dieser verletzungen ist zumeist streitig.
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(01) als beispiel zitiere Ich die taufe bei den christen.
(02) eine prozedur, die für den prüfling auch tödlich enden kann.   <==//
(e)
die zirkumzision ist als medizinischer eingriff in den körper des menschen unbestritten; als therapie ist die zirkumzision medizinisch geboten, wenn die diagnose die therapie indiziert. Die gründe der medizinischen wissenschaft sind für den körperverletzenden eingriff zwar respektabel, aber aus diesen gründen ist kein argument ableitbar, mit dem die strafbarkeit der handlung: zirkumzision, zwingend begründet werden könnte. Jeder grund, der für die strafbarkeit der zirkumzision erwogen werden kann, ist in der kultur derjenigen verortet, die meinen die strafbarkeit behaupten zu müssen, auch mit argumenten aus der sphäre der religion.  <==//
(f)
Ich wiederhole das argument, spitz auf den punkt gebracht. Der schnitt in den körper ist das eine, die deutung des schnitts als verletzung des körpers ist interpretation. Worüber gestritten wird, das ist die interpretation des schnitts als handlung der heilung oder der schädigung. Die gründe für eine bestimmte interpretation sind nicht in der sache, dem körper, verortet, sondern in der person des interpreten.   <==//
(g)
die lange übung einer praxis kann ein starkes argument sein, wenn die strafbarkeit oder nicht_strafbarkeit der bestimmten handlung zu begründen ist. Die dauer einer praxis ist kein absolutes argument für die geltende regel, aber dauer kann ein indiz dafür sein, was in der gemeinschaft als richtig oder falsch ansehen wird. Das geübte ritual der religion ist der ausweis, dass in der religionsgemeinschaft der konsens besteht, die verletzende handlung nicht als straftat zu bewerten. Es muss aber genau hingesehen werden, was die grenzen dieses konsenses sind. Die handlung der beschneidung kann einerseits eine straftat sein, nämlich dann, wenn ein unbefugter das ritual vollzogen hat; andererseits kann die handlung der zirkumzision dann strafbar gestellt sein, wenn gründe geltend gemacht werden, die von allen, die es betrifft, akzeptiert sind, ohne in der religion verortet zu sein. Die gründe für die strafbarkeit der zirkumzision, ja und/oder nein, sind mit den gründen für das ritual der beschneidung nicht vergleichbar, weil sie unterscheidbaren bereichen der erfahrung des individuus als ich und seines genossen zugeordnet sind, die getrennt zu halten auch ein moment des gesellschaftlichen zusammenlebens sind.   <==//
(h)
die frage, ob die unterwerfung unter einen initiationsritus zum vorteil des heranwachsenden gruppenmitglieds ist oder nur dem vorteil der gruppe dienen soll, kann, abhängig von der perspektive des interesses, different beurteilt werden. Im bürgerlichen recht ist die abgrenzung ein problem des rechts der eltern auf erziehung des kindes und des rechts des kindes auf eigene persönlichkeit. Der widerstreit der rechte ist pragmatisch zu lösen, weil beide seiten hinreichende argumente für die eigene position haben. Zwar suggeriert die festlegung einer trennlinie zwischen den widerstreitenden rechten per gesetz eine gewisse stabilität der rechtsverhältnisse, aber die starrheit des gesetzes ist nicht immer hilfreich, wenn der prozess des wandels gesellschaftlicher gewohnheiten in die rechtsordnung eingebunden werden muss. So kann die zugehörigkeit zu einer religion im verlauf einer biographie zu bestimmten zeitpunkten unterschiedlich beurteilt werden. Folglich kann die entscheidung der eltern, am minderjährigen kind den initiationsritus vollziehen zu lassen oder aufzuschieben, den erwachsenen sowohl beschädigt als auch begünstigt haben. Es gibt keine sichere prognose, weder für das verbot der beschneidung als straftat, noch gibt es ein gebot, die beschneidung als ritual beizubehalten. Fall für fall sollte im umkreis der faktischen bedingungen entschieden werden, weil aspekte berücksichtigt werden müssen, die mit keinem gesetz im voraus entscheidbar sind.   <==//
(i)
die beschneidung der weiblichen genitalien wird als teil kultureller gewohnheiten verteidigt und oft als das gegenstück der rituellen beschneidung des mannes gedeutet. Alle einschlägigen argumente sind unzutreffend. Zumindest für die drei grossen monotheistischen religionen gilt, dass die praxis der beschneidung von frauen kein ritual der religion ist(01), und was sonst an gründen für die genitalverstümmelungen der frauen geltend gemacht wird, das ist auf erwägungen zurückzuführen, die mit dem zusammenhalt der gruppe als lebensgemeinschaft verknüpft sind. Für alle, die es betraf, galt im existenzkampf der gruppe der konsens, das im tausch wichtiger güter mit anderen gruppen die frau ein objekt des tauschens ist. In diesem kontext war die jungfräulichkeit der mädchen das pfand für die gleichwertigkeit der getauschten güter. Dieses "pfand" musste gesichert werden und die manipulation der genitalien wurde als mittel zum zweck instrumentalisiert(02). Der zweck der handlung, die verstümmelungen der genitalien, ist folglich in gründen fundiert, die heute nicht mehr akzeptabel sind(03). Das sind gründe, die als starke gründe die strafbarkeit dieser handlung rechtfertigen.
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(01)
es ist vorstellbar, dass fälle zitiert werden können, in denen die beschneidung der frau als ritual einer lokalbeschränkten religionsgemeinschaft praxis ist. Die gründe für die praxis sind aber differenzierend zu beurteilen. Jedes ritual ist in den gewohnheiten der gruppe eingebunden, die das ritual übt. Es ist also wahrscheinlich, dass in langer übung die verknüpfung einer gewohnheit mit den glaubenssätzen der religion vollzogen wurde, ohne das am resultat es möglich ist auszumitteln, was ursache gewesen war, was wirkung ist(*1).
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(*1) Ich verweise auf das brotbrechen als teil des christlichen abendmahls.
(02)
die praxis der genitalverstümmlung bei frauen wird auch heute noch geübt. Die ethnologen haben mit ihren forschungen eine fülle an dokumenten der historia zusammengetragen.
(03)
die frage, ob diese gründe überhaupt akzeptabel sein können, ist im blick auf die theorien zu beantworten, die mit dem terminus: das_humanum, bezeichnet werden können. Es sollte konsens sein, dass für die verstümmelung der weiblichen genitalien kein denkbarer grund geltend gemacht werden kann, der akzeptabel ist.  <==//
finis
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stand: 13.04.27.
eingestellt:  12.09.22.
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