TEXTSAMMLUNG
das argument des monats
ausgabe: (29)01-03/2014  januar-märz/2014

Leben tötet leben.
Die logik der natur im widerstreit mit der moral des individuums als ich.
 

Du sollst nicht töten! Das mosaische gesetz ist alt. Das gesetz im horizont seiner geltung anzuerkennen ist vernünftig - jenseits des horizonts, eine nicht_überschreitbare grenze für die erfahrung, kann das individuum als ich, sein genosse eingeschlossen, nichts prädizieren. Entgegen des moralischen vorurteils ist das verbot, leben zu töten, als befehl eines gottes apodiktisch formuliert, gegenstandslos, weil, wenn das verbot des tötens ein gesetz der natur wäre, kein leben in der natur existieren könnte.

Daher provoziert die nachricht(a) verwunderung, dass menschen, sie nennen sich frutarier, sich entschieden haben, allein von den früchten der pflanzen leben zu wollen, die als stammpflanze bei der ernte nicht zerstört werden. Die begründung der frutarier ist nachvollziehbar; denn ihre lebensweise ist mit der maxime der moral, das leben als den höchsten wert anzusehen, plausibel verknüpfbar, aber, und dieser aspekt sollte nicht übersehen werden, ihre lebensweise widerstreitet dem gesetz der natur, das die tötung des einen individuums als die bedingung statuiert, dass das andere individuum leben kann.

Das tötungsverbot ist weder als ein absolutes gesetz ausweisbar(b), noch kann es relativiert werden(c), aber möglich ist es, das tötungsverbot als gesetz, wenn es für das individuum als ich und seinem genossen einen rational ausgewiesenen sinn haben soll, in seinen grenzen zu bestimmen. Das leben, oder wie man es auch sagt, das leben an sich ist kein absoluter wert, aber das leben ist immer ein wert für etwas - es ist das mittel zum zweck, ohne selbstzweck sein zu können(d). Die differenz muss behauptet werden, wenn das tötungsverbot reflektiert wird, entweder im horizont der natur oder im horizont der kultur.

Die gewalt, leben tötet leben, ist die bedingung, die das individuum befähigt, sich im leben zu halten, damit es das werden kann, was es sein soll, ein individuum. Diesem prozess des lebens kann sich kein individuum entziehen, wenn es das individuum sein will, das es ist(e). Aber, und dieser einwand ist in die überlegung mit einzubeziehen, das individuum existiert nur in der abfolge der generationen, in der es ein einzelfall ist(f), und das, was es geworden ist, das muss es, man sagt es sei sein zweck, an die folgende generation weitergeben. Um dies leisten zu können, ist es in den prozess des lebens als teil des prozesses eingebunden. Um sich fortpflanzen zu können, kann das gebot: leben muss leben töten, nur partiell gelten, weil anders die ungestörte abfolge der generationen nicht gewährleistet sein kann. In der natur gibt es einschränkungen der gewalt, die das individuum hemmen, den artgenossen zu töten, um die existenz der jeweiligen fortpflanzungsgruppe zu sichern, in der das individuum seinen zweck, sich fortzupflanzen, erfüllen kann(g).

Das individuum als ich ist aus seiner natur herausgetreten(h), es hat sich seine welt geschaffen. Diese neue welt wird in der abgrenzung zur natur mit dem terminus: kultur, fixiert(i), eine welt, in der die instinkte der natur nicht gelten können und in der das individuum als ich und sein genosse den mechanismus der selbsterhaltung, sowohl als individuum als auch als gruppe(=gattung), selbst organisieren müssen. Das tötungsverbot, formuliert als das 5.gebot im dekalog(2.Mose, Ex.20.1-17) ist ein instrument der selbsterhaltung sowohl als gruppe als auch als individuum, ein instrument, das in seiner funktion mit den einschlägigen instinkten in der natur vergleichbar ist.

Das mosaische tötungsverbot ist auf den menschen und seine kultur beschränkt, in seinen grenzen aber muss es uneingeschränkt gültig sein(j). Die geltung des verbots, leben zu töten, setzt eine differenzierung voraus, die, wenn sie beachtet wird, den rationalen kern des tötungsverbots ebenso offen legt wie das gebot, das leben zu heiligen. Wenn das individuum als ich, das individuum in der natur, sich als das ich begreifen will, dann muss es, das individuum als ich in der kultur, die existenz jedes individuums respektieren, immer begrenzt auf den bereich: kultur oder natur(k).
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Anmerkungen:
(a)

die nachricht: "BERLIN(dpa). Frutarier ernähren sich fast ausschliesßlich von reifen Früchten. Anders als Veganer verzichten sie nicht nur auf tierische Produkte wie Milch und Käse, erläutert der Vegetarierbund Deutschland (Vebu). Sie meiden auch Gemüsesorten, bei deren Ernte auch die Stammpflanze zerstört wird: Kartoffeln, Zwiebeln und Kohl"(*1).
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(*1) Westfälischen Nachrichten, 12.12.2013. Die meldung, abgedruckt unter der schlagzeile: "Frutarier verzichten auf Kartoffeln", wird unverkürzt zitiert.   <==//
(b)
wenn dem tötungsverbot eine absolute geltung zugeordnet würde, dann ist auf ein kleines, marginales faktum zu verweisen, nämlich das faktum, dass, wenn die vernunft das maass der dinge wäre, zumindest die gattung: mensch, die krönung der schöpfung, keinen krieg führen könne. Die vorstellung aber, dass das staatlich sanktionierte töten von menschen nicht möglich sein solle, ist, heute wie damals, in der ökonomisierten welt der geschäfte, nicht vorstellbar, und die vernunft, auch ein faktum, hat bei den menschen keine dauernde heimstatt.   <==//
(c)
die relativität des tötungsverbots ist zwar geübte praxis, aber sie kann nicht zugestanden werden, wenn die gesellschaftliche ordnung funktionieren soll, in der das individuum als ich und sein genosse eingebunden sind. Dieser widerspruch, gelebt in den gewalttägigen gegensätzen, ist die realität, in der das individuum als ich und sein genosse versuchen, ihre existenz zu bewältigen.   <==//


(d)

Immanuel Kant lehrt, dass der mensch kein mittel zum zweck sei, sondern selbst der zweck sein solle. Dieser satz ist in der ethik gültig, den regeln der ethik kann aber die natur nicht unterworfen sein. Als gesetz gilt das tötungsverbot in der kultur, die das andere zur natur ist(01).
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(01) anmerkung: (f/(02)).   <==//
(e)
das prinzip des lebens, als das gesetz der natur präsent, gibt jedem individuum die möglichkeit der existenz sui generis(01). Diese existenz kann das individuum(02) nur dann sichern und schaffen, wenn es das leben eines anderen individuums ausbeutet(03), also, in der kategorie der ökonomie formuliert, wenn es sich auf kosten des anderen erhält, und der preis dafür? - nun, das ist die eigene existenz, die einem anderen individuum zur beute fallen wird(04).
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(01)
in dieser form ist das prinzip des lebens mit dem prinzip der gewalt identisch, die, in differenten formen erscheinend, immer als ungleich erlebt werden. Der stärkere frisst den schwächeren, das raubtier schlägt das beutetier - ein zustand wird durch einen anderen zustand ersetzt(*1), der tod des einen individuums ist die existenz des anderen.
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(*1) das ist die definition des begriffs: gewalt.
(02)
das prinzip des lebens gilt für jedes individuum, das lebt - für das bakterium in derselben weise wie für den homo sapiens, soweit dieser auf seine physische existenz, sein zustand in der natur, reduziert erscheint(*1).
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(*1) diese einschränkung darf nicht unterschlagen werden, wenn die ratio des arguments gültig sein soll.
(03)
die tötung des anderen individuums ist nur eine möglichkeit des individuums, seine existenz zu sichern. Nicht übersehen werden sollte die spezielle lebensweise eines individuum zu lasten des anderen, ohne das andere individuum in seiner physischen existenz zu vernichten. Das ist die struktur der symbiotischen lebensformen(*1).
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(*1) die menschen haben die symbiotische lebensform schlecht kopiert, wenn im wirtschaftsprozess der eine den anderen ausbeutet. Die spannweite der möglichen formen, zu lasten des anderen (besser) zu existieren, ist grooss.
(04)
in der natur ist das der stoffwechsel in seinen vielfältigen formen(metabolismus).    <==//
(f)
die unterscheidung: das individuum und das individuum als ich, ist strikt zu beachten. In der natur sind nur individuen möglich. In den formen der selbsteinschätzung gibt es individuen(01), die den bereich der natur verlassen haben und sich, ein ich seiend, ihre kultur schaffen, in der sie, das individuum der natur, als das ich in der kultur existieren(02).
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(01)
das ist die traditionale unterscheidung: mensch/tier(pflanze). Das individuum der gattung: mensch, kann sich als dieses individuum nur dann begreifen, wenn es eine unterscheidung zu den individuen aller anderen gattungen getroffen hat. Es gehört zum guten ton der political correctness zu behaupten, dass diese unterscheidung dem anthropozentrischen denken folge. Diese meinung ist zur kenntnis zu nehmen, sie ist aber falsch; denn die unterscheidung mittels einer definition(*1) ist die bedingung, dass das bestimmte individuum sich als teil seiner gattung erfahren kann, sich von allen anderen individuen in der natur unterscheidend. Die kategorien der moral kommen erst dann in betracht, wenn das individuum als ich diese unterscheidung gemacht hat. Kein tier und keine pflanze kann, vorausgesetzt die definition gilt, ein subjekt in der kultur sein(*2), weil diese individuen nicht fähig sind, die maximen der moral zu formulieren und danach zu handeln. Die konsequenz der unterscheidung ist, dass das individuum als ich nicht nur befugt ist, die individuen in der natur anders, das heisst als sache zu behandeln, es muss sie auch anders händeln, wenn es sich selbst, das individuum in der natur, als ein ich begreift(*3).
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(*1) das erkenntnistheoretische problem dieser festlegung ist hier nicht weiter zu erörtern und Ich setze voraus, dass die methodische grenze der definition bekannt ist.
(*2) klarstellung. Davon ist abzugrenzen, dass die individuen in der natur dinge der welt sind, mit denen das individuum als ich in seiner kultur konfrontiert ist.
(*3) für das individuum als ich ist das leben, das nicht teil seiner gattung: mensch, ist, immer objekt, in keinem fall subjekt. Diese feststellung ist kein freibrief, dass der mensch, die sogenannte krönung der schöpfung, al gusto mit der kreatur umspringen könne, gerade so, wie er es in seinen profiterwartungen für profitabel hält. Das mitleiden ist das handeln, mit dem das individuum, ein ich seiend, sich als ich ausweist.
(02)
zu meinem gebrauch der begriffe: "natur, kultur und individuum als ich" //==>INDEX der argumente/stichworte.  (f) <==//
(g)
die formen sind vielfältig, in denen das individuum einer gattung die existenz der gruppe sichert, seine existenz sichernd. Es sind instinkte, die, erbteil der natur, das verhalten des individuums in der gruppe steuern und dem exemplar(01) der gattung keine alternative verstatten. Es sind mechanismen der natur, deren rechtfertigung der erfolg, die erhaltung der gattung ist(02). Ein konstitutives moment dieser mechanismen ist die unterbindung der tötung des artgenossen durch ein artspezifisches verhalten(03).
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(01)
das ist ein problem der termininologie. Es ist üblich, den menschen als individuum zu bezeichnen, einzelne tiere und pflanzen dagegen als exemplar. Die termininologie stelle Ich nicht in frage, Ich versuche aber das problem erkenntnistheoretisch präziser zu erfassen, wenn Ich die unterscheidung: individuum/individuum_als_ich, proponiere(*1).
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(*1) anmerkung: (f/(02)).
(02)   auf diesen mechanismus in der natur, als faktum beobachtbar, ist die theorie der evolution abgestellt.

(03)

der instinkt, den artgenossen nicht aufzufressen, erscheint als ein tötungsverbot, aber das, was als ein verbot erscheint, ist nicht mit dem verbot gleichzusetzen, das in der kultur gelten muss, wenn die gattung: mensch, sich dauerhaft in der existenz halten will.  <==//
(h)
der austritt des menschen aus seiner natur wird im mythos vom sündenfall erzählt. Dem individuum als ich ist dieses faktum in den formen der schuld gegen den genossen bewusst und bekannt in den formen der theorie, die als formen der rechtfertigung vom individuum als ich und seinem genossen gehändelt werden(01).
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(01) Ich belasse es bei diesem hinweis, weil die verfolgung dieses gedankens ein anderes feld der reflexion öffnet, das zweckmässiger in seinem zusammenhang erörtert werden sollte. Der reflexion eines problems ist es eigentümlich, im fortgang der gedanken immer weiter auszugreifen. Beschränkung ist also ein moment, einen gedanken in seiner fülle zu formulieren.
(i)      anmerkung: (f/(02)).   <==//

(j)

eine terminologische differenz sollte beachtet werden. Die formel lautet gewöhnlich: du sollst nicht töten(01). Für das wort: töten, steht auch das wort: morden. Der terminus: morden, erscheint mir adäquater zu sein; denn der terminus: töten, stellt auf den vorgang, die zerstörung von leben ab, im terminus: morden, aber schwingt auch die bedeutung der schuld mit. Gegenüber dem genossen kann das individuum als ich schuld haben, nicht aber gegenüber einem bestimmten tier oder einer bestimmten pflanze.
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(01)
2.Mose, Ex.20.13. So übersetzt es Luther: "DV SOLT NICHT TÖDTEN"(*1). In einer anderen übersetzung: Du sollst nicht morden!(*2).
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(*1) D.Martin Luther: Biblia. Die gantze Heilige Schrift. Wittenberg 1545, (Nachdruck: dtv text-bibliothk,6031).
(*2) Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Aschaffenburg: 1959. (imprimatur Würzburg: 1957)(übersetzung: M.Stenzel).  <==//
(k)
die zweifel sind begründet, ob der mensch den erforderlichen umgang mit der kreatur in der natur beachtet. Der blick auf den ökonomischen umgang mit dem leben genügt(01). Aber in die kritik sind auch die rechtfertigungen einzubeziehen, die von den frutariern(02) vorgetragen werden. Sie denken logisch korrekt, vielleicht, aber sie handeln pragmatisch inkonsequent. Sie konzedieren, dass sie sich von pflanzen nähren - aber auch das ist leben, das sie töten müssen, wenn sie als frutarier ihre ideologie weiter betreiben wollen. Ihr offensichtlicher irrtum ist, dass sie glauben, das gesetz der natur mit den sophistischen kautelen, den maximen ihrer moral, unterlaufen zu können, der natur nämlich, der sie entstammen, in der sie leben und in der sie wieder verschwinden werden.
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(01)
es ist ein skandal, dass im prozess der ökonomie das leben eine ware geworden ist. Der fischer, von dem erzählt wird, dass er den gefangenen butt um vergebung gebeten habe, weil er, der fischer, um zu leben, ihn töten müsse, dieser fischer ist ein mensch, ein individuum, das ein ich ist(*1).
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(*1) anmerkung: (f/(01))
(02)
einzubeziehen sind auch die vegetarier und veganer und alle, die vergleichbares denken. Die differenzierung: einerseits das verbot, tiere zu töten und/oder ihre produkte zu verbrauchen, andererseits die erlaubnis, pflanzen zu essen, ist logisch widerspruchsfrei nicht erklärbar, weil das leben nicht differenzierbar ist. Um den widerspruch zu verbergen, werden hilfsüberlegungen aktiviert, die präzis das als möglichkeit zulassen, was ausgeschlossen sein sollte. Die logik ihrer argumente, auf die absurde spitze getrieben, ist, dass die schützer der tiere, sich selbst ermächtigt habend, auch die tötung des bakteriums verneinen müssten, aber bei der nächsten infektion greifen sie zum antibiotikum und sind ungehalten, wenn's nicht gleich wirkt.   <==//
finis

stand: 14.04.21
eingestellt:  13.12.31.

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