TEXTSAMMLUNG
das argument des monats
ausgabe: (32)02-03/2016 februar-märz/2016 (blieb stehen bis 07/2016)
 
Das gesetz, mit verstand gehändelt, kann ein segen sein ... .

Das gesetz ist das schibboleth der herrschaft, oder ist es nicht zutreffender zu sagen, das gesetz sei das aufgepflanzte bajonett der macht? Ist die wahl der worte zu krass?(a).

Das urbild des gesetzes hatte Moses auf dem berg von gott diktiert bekommen und auf der steinernen gesetzestafel überbrachte es Moses seinem volk, aber Moses zerbrach die gesetzestafeln, als das störrische volk, seinem eigenen gesetz folgend, ein goldenes kalb gewählt hatte. Was also ist das gesetz, vom dem allerorten gesprochen wird?(b).

Wenn in den debatten um das gesetz gestritten wird, dann ist ein argument immer wieder zu hören, die rede nämlich, dass das gesetz unerbittlich sei. Die begründung ist, dass ein gesetz durchgesetzt werden müsse. Die passende parole zu dieser meinung ist der lateinische satz: fiat iustitia, pereat mundus(c). Als maxime ist der satz im gebrauch, aber die logik des satzes ist gegründet auf einem gedoppelten denkfehler.

Der 1.denkfehler ist die behauptung, dass mit der wesensbestimmung des gesetzes das gesetz als etwas ausgewiesen sei, das sui generis ist. Das gesetz wirke in seiner verankerung im sein wie ein subjekt, das nur sich selbst folgen könne. Die rede ist in der tradition gültig, dass die naturgesetze unverrückbar seien. D'accord, es gibt regeln der erfahrung, die unter definierten bedingungen keine ausnahme(=wunder) zulassen, aber es ist ein unzulässiger schluss, aus diesen erfahrungen abzuleiten, dass im sinn der logik die festgestellte regel auch absolut sei. In raum und zeit steht jeder bestimmten erfahrung eine andere erfahrung entgegen, die in gleicher weise als ein gesetz interpretierbar ist(d).

Der 2.denkfehler ist die behauptung, dass, logisch nicht_fehlbar, jedes gesetz ein subjekt impliziere, das der schöpfer dieses gesetzes ist, mit der konsequenz, dass das gesetz selbst das subjekt sei. Wenn diese bestimmung im sinn der logik gälte, dann wäre kein gesetz denkbar, das mit dem anspruch auf uneingeschränkte geltung gesetzt werden könnte, weil kein phänomen, bezeichnet mit dem terminus: gesetz, diese bedingung erfüllen kann. Weder kann das gesetz des geglaubten gottes(e) absolut sein, noch könne das gesetz des staates diese funktion ausfüllen(f), weil das, was als ordnung der welt geschaffen wird, das werk des individuums als ich und seines genossen ist, die, jeder für sich, gemeinsam die verhaltensregeln schaffen(g), die im horizont der zwecke eindeutig bestimmt sein sollten.

Das gesetz ist eine regel, die als mittel zu einem zweck eingesetzt wird(h). Mit dieser these ist aber der blick vom gesetz gelöst und in den fokus der analyse und reflexion ist das individuum als ich gekommen, sein genosse eingeschlossen, die das gesetz als mittel für ihre zwecke instrumentalisieren. Ein gesetz kann noch so gut gemacht sein, es wird seine wirkung verfehlen, wenn der anwender des gesetzes unfähig ist, das gesetz mit verstand in seine praxis umzusetzen, die an den gesetzten zwecken ausgerichtet ist(i). Die frage, begriffen als das problem des gesetzes, ist, wie die allgemeine regel im besonderen fall anzuwenden sei(j). In raum und zeit ist jede antwort relativ, gleichwohl ist für jedes gesetz, jedes gesetz für sich, bedingungslose geltung einzufordern; denn der anwender des gesetzes ist, wenn das gesetz real angewendet wird, auf das beschränkt, was ihm im moment der gelebten gegenwart an handlungsmöglichkeiten verfügbar ist. In dieser situation muss das individuum als ich sich entscheiden, was es tun soll, was es tun muss und was es tun will, um dem gesetz zu genügen, instrumentalisiert als regel. Das kann die buchstäbliche befolgung eines textes sein, das kann aber im gegensatz zum gesetz auch die nicht_beachtung der regel sein (contra legem), nämlich dann, wenn der zu erreichende zweck mit dem text des gesetzes nicht und/oder unzureichend übereinstimmt und eine neue regel, immer ad hoc gedacht, vernünftiger ist(k).

Das gesetz, gehändelt mit verstand, ist eine form der auslegung eines textes, der eine vielzahl von lösungen offen lässt, wenn die reale situation mit in den blick genommen wird. Was meine Ich damit? - Ich erläutere die frage an einem beispiel(l). Die fussgängerampel ist ein zweckmässiges instrument, um den verkehr: auto und fussgänger, im interesse aller, die es betrifft, rational, aber auch interessengemäss zu ordnen. Im dichten autoverkehr ist es vernünftig, wenn der fussgänger wartet, bis seine ampel grün anzeigt, es ist aber unvernünftig, wenn der fussgänger, ob in eile oder nicht, wartet, bis ihm das grün anleuchtet, obgleich in seinem blickfeld weit und breit kein auto in sicht ist, das für ihn eine gefahr sein könnte(m). Ich will den gedanken etwas anders, allgemeiner, formulieren. Der common sense ist gefordert, wenn das gesetz anzuwenden ist, aber was ist der zweck einer regelung? und was ist in der bestimmten situation des moments der gelebten gegenwart die angemessene handlung im horizont des zwecks, der durch das gesetz geregelt werden soll? Es kann vernünftig sein, contra legem zum text des gesetzes, das zu tun, was dem zweck des gesetzes entspricht - es ist also die urteilskraft jedes bürgers gefordert, das gesetz im horizont des zwecks auszulegen und anzuwenden(n).

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(a)

es sollte, wenn über das gesetz nachgedacht wird, die unterscheidung beachtet werden, die einerseits gesetzt ist mit dem begriff: gesetz, und die andererseits in den phänomenen der welt als regel und/oder gesetz präsent ist(01). Das, was als das gesetz in seinen vielfältigen facetten erscheint, immer fixiert in einer formel, schriftlich oder mündlich tradiert, das ist ein ding der welt, dem keine besondere würde zukommen kann und das wie jedes andere weltding zu händeln ist. Aber die wirkung des bestimmten weltdinges auf das individuum als ich oder seinen genossen kann sehr verschieden gestaltet sein, und in den unterscheidbaren wirkungen ist die differenzierende einschätzung jedes denkbaren gesetzes zu verorten. Das gesetz(02) kann dem einen die verheissung der welt sein, dem anderen ist es die bedrohung seiner bürgerlichen existenz.
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(01)
das problem ist die unterscheidung von phänomen und begriff, die, logisch strikt getrennt, durch die bezeichnung mit dem terminus: gesetz, als austauschbar erscheinen. Der begriff: gesetz, hat eine andere funktion als das phänomen: gesetz(*1).
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(*1) zu meiner unterscheidung: begriff und phänomen, //==> homepage: www.ur-philosoph.de //==> index //==>INDEX der begriffe/stichwort: begriff/phänomen.
(02)
Ich verweise auf Franz Kafka, der in seinem roman: Der Prozess, und in seiner erzählung: Vor dem Gesetz, den mythos gestaltet hat, der das gesetz, von dem immer geprochen wird, umwabert. Das gesetz ist immer etwas vom menschen gemachtes, aber es wird mit einem geheimnis ummantelt, das das gesetz unheimlich macht.       (a)<==//
(b)
eine mögliche antwort, bewährt in der wissenschaftlichen praxis, ist die klassifizierende ordnung einschlägiger weltdinge als gesetz. Prima vista ist die klassifikation: "naturgesetz, logisches gesetz, bürgerliches gesetz, usw usw" plausibel, secunda vista kann diesen klassifikationen, die situationsabhängig unbestritten zweckmässig sein können, nichts entnommen werden, das auskunft gäbe, was das gesetz als begriff sein könne und/oder faktisch ist. In der tradition ist es üblich, die frage nach der differentia specifica unter dem stichwort: das wesen des gesetzes, zu erörtern. Die gefundenen antworten werden als durchgeführte wesensbestimmung materiell im politischen kampf mit gewalt durchgesetzt, oder auch nicht. Pragmatisch können die ontologischen festlegungen im diskurs hilfreich sein, aber die im diskurs bezeichneten merkmale geben keine zwingende auskunft über das, was das gesetz, wie man sagt, in seinem wesen sei. Jede mögliche antwort, erwogen im diskurs, ist auf den minimalkonsens beschränkt, dass das gesetz eine regel sei, mit der alle, die es betrifft, ihre sozialen beziehungen einem rationalen kalkül unterstellen können.       (b)<==//
(c)
der satz: fiat iustitia, pereat mundus, immer wieder zitiert, wirkt in seiner frappanten eindeutigkeit überwältigend, aber der griffige satz ist logisch inkonsistent, folglich falsch. Die lakonik der lateinischen formel ist irreführend, weil in der übersetzung zwei varianten möglich sind, die nicht kompatibel gemacht werden können. Der schlüssel zum verstehen ist die übersetzung des worts: pereat. Zum ersten die variante: auch (dann), wenn die welt zugrunde ginge; zum zweiten die variante: und wenn die welt zugrunde ginge. Die eine übersetzung akzentuiert die bedingung für die mögliche gerechtigkeit, die andere die wirkung auf die realisierte gerechtigkeit, aber das resultat der angezeigten prozesse ist das verschwinden der welt, wenn einerseits die mögliche gerechtigkeit die bedingung ist, die andererseits als mögliche gerechtigkeit die wirkung sein soll. In der zweideutigkeit der formel ist mit der welt auch die gerechtigkeit verschwunden.       (c)<==//
(d)
das gesetz der schwerkraft(physik/astrophysik) macht den zusammenhang plausibel. Die anziehung/abstossung von körpern(=masse) ist nur unter bestimmten bedingungen als phänomen demonstrabel. Newton's berühmter apfel fällt im weltraum nicht vom baum und eine gleichung ist kein gesetz(01).
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(01)   die bekannte Einsteinformel: E = m c2 , bildet nur ein verhältnis von zahlen auf der zahlenreihe ab.       (d)<==//
(e)
der glaube an den allmächtigen gott bewirkt zwar die furcht des gläubigen vor seinem geglaubten gott, aber der ausweis der furcht vor dem geglaubten gott ist kein beweis seiner allmacht. Im glauben hat der gläubige nur sich selbst gebunden.       (e)<==//
(f)
der staat ist eine schöpfung des individuums als ich und seines genossen, mit der sie die gemeinsam geteilte welt einvernehmlich ordnen wollen. Der staat ist also immer das mittel, in keinem fall das subjekt. Das, was im namen des staates geschieht, das ist das werk des individuums als ich und seines genossen im gemeinsamen tun. Ohne den bezug auf das individuum als ich und seinen genossen ist kein gesetz denkbar, das die funktion hat, die ordnung in der gemeinsam geteilten welt zu vermitteln.       (f)<==//
(g)
der begriff des gesetzes ist auf den staat nicht beschränkt, er wirkt auch in jeder form der gesellschaftlichen beziehungen, die zwischen dem genossen und dem individuum als ich beschreibbar sind. Die existenz des individuums als ich, eingebunden der genosse, geregelt durch gesetze, ist auch im verband der sozialen gruppe(01) real. Das, was in staat und gesellschaft als das gesetz gilt, das wirkt als das gesetz der sozialen gruppe in der regel rigoroser als die gesetze des staates.
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(01)
Richter,Ulrich: Der begriff: das_politische, im trialektischen modus.(C-fassung). Argumente: 2.32.04-06 und 2.32.13. und Register/begriffe: verband der sozialen gruppe. In: www.ur-philosoph.de  //==>bibliographie //==>verzeichnis //==>signatur. 014:das_politische.       (g)<==//
(h)
das gesetz in der praxis der jurisprudenz und in den theorien der rechtswissenschaft soll hier beiseite gelegt bleiben.       (h)<==//
(i)
die denkbaren zwecke haben nur dann bestand, wenn sie im horizont des begriffs: das humanum, ausgerichtet sind(01). Die gewalt, real in den phänomenen der macht, kann kein zweck sein, der durch das gesetz regelbar ist(02)
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(01)
Richter,Ulrich: Der begriff: das_politische, im trialektischen modus. Argument: 2.22.23. a.a.0.
(02)
a.a.O. argument: 2.62.05.
(nota: die D-fassung wird ab 01.04.2016 auf der hp stehen).
(i)<==//
(j)
das problem ist bekannt, wenn über die methoden der auslegung eines gesetzes(=textes) debattiert wird. Jede methode ist so gut respektive so schlecht, wie sein verwender die methode zu gebrauchen weiss. Der hermeneutiker kennt die probleme, wenn er in der auslegung eines textes die allgemeine regel auf den konkreten fall anzuwenden hat. Die auslegung der gesetzesnorm durch den juristen ist ein spezieller fall der hermeneutik. In der regel ist der text des gesetzes gesichert, niemals gesichert ist seine bedeutung, aber die ist entscheidend, wenn das gesetz wirkt.       (j)<==//
(k)
Ich verweise auf die praxis des angelssächsischen rechts, das das präjudiz als norm kennt und weniger strikt auf das gesetz zurückgreifen muss, beschlossen von einem parlament. In der perspektive der rechtspraxis ist das präjudizienrecht flexibler als das starre gesetzesrecht, im blick auf die idee der gerechtigkeit aber ist diese rechtspraxis weniger strikt kalkulierbar, weil es von der vernunft eines einzelnen richters abhängt, was fortan als regel gelten soll, entwickelt von einem individuum als ich in seinem forum internum(01). Es ist zwar ein verlockender gedanke, dass der richter frei sei, die allgemein gültige rechtsregel zu finden und zu formulieren, aber in der sache wird nur das problem der auslegung eines gesetzes/einer rechtsregel verschoben, ohne den streit zu einer abschliessenden lösung zu bringen, ein streit, den das individuum als ich und sein genosse nur im konsens beenden können.
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(01)
die vor- und nachteile des angelsächschischen präjudizienrecht sollen hier nicht en detail zur sprache gebracht werden.       (k)<==//
(l)
im prinzip kann jeder bereich des bürgerlichen lebens herangezogen werden. In der jurisprudenz ist es üblich, die fälle mit geringen streitwerten unter den aspekt: geringfügigkeit der verfehlung, abzuhandeln, aber immer wieder sind in den medien berichte zu finden, in denen, pars pro toto(01), ein berufungsprozess um 10 cent vor dem Bundessozialgericht ausgefochten wird(02). Hier fehlt's am nötigen augenmaass.
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(01)
dpa-bericht unter der schlagzeile: "Für zehn Cent vors Sozialgericht", in: Westfälische Nachichten, 12.01.2016. Vergleichbare fälle in einem anderen bericht. In: DER SPIEGEL, 49/2015, p.58, und die abgedruckten leserbriefe zum bericht, in: a.a.O, 51/2015, p.145.
(02)
es ist zweckmässig, genau hinzuschauen, worum es in dem rechtsstreit geht. Wenn an den 10 cent plausibel ein streitiges rechtsprinzip festgemacht ist, dann kann der streit vor dem höchsten gericht sinnvoll sein, wenn's aber nur um 10 cent geht, die die behörde einem Hartz_IVler zuviel gezahlt hatte und nun das geld, nicht rechtmässig zugeflossen, wieder zurückhaben will, dann ist mit guten gründen das urteil zutreffend, dass die behörde die kirche gefälligst im dorf zu belassen habe.        (l)<==//
(m)
klarstellung. Ich plädiere nicht für die nicht_beachtung der fussgängerampel, Ich denke nur, das es verstandesmässiger ist, wenn auch die reale situation in die abwägung: stehenbleiben oder gehen, in der jeweils besonderen situation einbezogen ist. In der perspektive eines autofahrers oder eines kindes liegt ein anderer fall vor. Ein kind kann noch nicht über die erfahrungen verfügen, die es braucht, um eine situation angemessen zu beurteilen. Für den autofahrer ist es hilfreicher, wenn er sich in einer komplexen situation keine ausnahmen zubilligt, weil das potential der gefährdung anderer mit dem auto grösser ist als das gefährdungspotential eines fussgängers, der sich auf zwei beinen fortbewegt.       (m)<==//
(n)
den hermeneutikern ist das problem der auslegung eines textes geläufig. Die juristen haben in ihren objekten (vielleicht) einen enger gezogenen rahmen des freien, aber sachangemessenen urteilens, der philosoph aber hat, so scheint es, einen weiteren beurteilungsrahmen und, das sei polemisch angehängt, die theologen legen ihren gott al gusto ohne jede schranke aus(01).
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(01)
eine meldung in der zeitung, pars pro toto. DPA meldet aus Riad: "Großmufti: <<Schach ist wie Alkohol>>" und er urteilt mit der autorität des theologen, dass schach als "<<Werk des Teufels>>" "im Islam verboten" sei. Seine begründung, von gott eingegeben(?), ist die formel: "<<Schach ist wie Alkohol und Glücksspiel, was Gott verboten hat>>"(*1).
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(*1)
die zitate im kontext der knappen dpa-meldung: "Großmufti: <<Schach ist wie Alkohol>> RIAD(dpa). Schach ist nach Ansicht des höchsten muslimischen Geistlichen Saudi-Arabiens <<ein Werk des Teufels>> und im Islam verboten. Großmufti Scheich Abdelasis al-Scheich erklärte Schachspielen sei Zeit- und Geldverschwendung und führe zu Streit. <<Schach ist wie Alkohol und Glücksspiel, was Gott verboten hat>>, erklärte er."(+1).
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(+1)   in: Westfälische Nachrichten, 23.01.2016.
(n)<==//
finis

stand: 16.07.17.
eingestellt: 16.02.18.

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