TEXTSAMMLUNG:
die meinung des bürgers
ausgabe: 09-11/05  september-november 2005
 

Macht - wozu?
Kohl - Schröder - Merkel. Die Symbole ihrer macht: strickjacke, currywurst und ein noch nicht bekanntes accessoire.
Text und subtext.

der text:

Die legende(1) erzählt, dass Gerhard Schröder als jungwilder im Bonn der 68er generation am zaun des kanzleramts gerüttelt habe: ich will da rein. Eine karikatur dieser tage zeigt den bundeskanzler, herrn Dr.hc.Gerhard Schröder, wie er jetzt in Berlin wieder am zaun des kanzleramts rüttelt: ich will da raus. Eine wiederholung historischer ereignisse, wahr oder falsch, gibt es nicht, aber es gibt historische ereignisse, falsch oder wahr(2), die zur reflexion über die deutung der gegenwart anregen. Die politische biographie von Helmut Kohl, Schröders vorgänger im amt, zeigt, dass Kohl jede etappe seiner karriere als einen schritt auf das ziel geplant hatte, bundeskanzler zu werden. Und Schröders wahrscheinliche nachfolgerin im amt, Angela Merkel, nutzt zielstrebig die fehler der konkurrenten, dieses ziel zu erreichen.

Das moment, das diese ungleichen zeitgenossen miteinander verbindet ist ihr obsessives streben nach macht.

Macht haben zu wollen ist nicht verwerflich, und erlangte macht zu verteidigen auch nicht; aber die macht kann eine droge sein, die, wenn sie nicht in klare zwecke eingebunden ist, zerstört, was sie hegen sollte(3). Dem theoretiker kann es genügen, die mechanismen der macht zu erkennen; denn machterwerb, machterhalt und der verlust der macht sind beschreibbare prozesse, in denen die interessen der am prozess beteiligten die motive sind. Der bürger aber, das objekt der mächtigen, ist an den zwecken interessiert, die jene personen verfolgen wollen, denen er mit seiner wahlentscheidung die machtausübung anvertrauen will, und die, wenn sie das mandat haben, real über das mittel: macht, verfügen, mit denen sie die zwecke realisieren. Kohl, Schröder und Merkel sind meister im spiel mit der macht, aber was sind die zwecke, die sie, die mächtigen, im umfeld ihrer vertrauten verfolgen? - Ich denke, das ist keine überflüssige frage.

Die frage nach den zwecken der macht ist formuliert - und meine antwort?

Die methoden des historikers können nützlich sein, die antwort vorzubereiten, aber das objekt der historiker sind die res gestae und noch sind Gerhard Schröder und Angela Merkel aktive politiker(4) und auch Helmut Kohl spielt als graue eminenz noch seinen part. Die dokumentierten zeugnisse der historia sind mit den dokumenten vermengt, die als aktuelle äusserungen im politischen kampf noch ein teil der machtkämpfe sind, die im moment der gelebten gegenwart ausgefochten werden. In diesen prozessen sind Kohl, Schröder und Merkel akteure, in die auch die bürger eingebunden sind, für die, wie man so sagt, das politische theater: macht, inszeniert wird. Das material für die deutung dieser pozesse ist also volativ und mit von der partie sind die gegenläufigen interessen an den verschiedenen deutungen.

Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angelika Merkel haben schon vieles gesagt(5), und in ihren karrieren, lang oder kurz, ist die menge ihrer res gestae beachtlich(6). Aber wenn Ich dieses material durchmustere, dann kann Ich den roten faden nicht erkennen, den Ich als zweck deuten könnte, den die herren Kohl und Schröder durchsetzen wollten, als sie das mandat für die machtpositionen in einer demokratisch geordneten gesellschaft ausübten, oder den die dame Merkel durchsetzen will, wenn ihr das mandat überantwortet werden sollte. Dieser zweck muss nicht in einem ausgetüftelten programm wie in einer blaupause minutiös mit den geplanten schritten fixiert sein(7), was Ich suche, das ist eine vision, wie das land in einer generation aussehen könnte, das sie mit realer macht betraut gestalten sollen. Die menge der verlautbarungen kurzfristiger politischer ziele ist so zahlreich wie die sandkörner an einem strand, aber was fehlt, das ist das band, das diese ziele in einer utopie zusammenbindet(8), die ein leuchtturm in einer unübersichtlich gewordenen welt sein könnte. Der utopische gedanke, der die demokratische machtausübung rechtfertigt(9), ist in der vorstellungswelt der herren Kohl und Schröder und der dame Merkel ein blinder fleck(10). Das ist eine antwort, aber mit diesem ergebnis ist die frage nach dem zweck der macht nicht beantwortet, sie bleibt offen und muss geschlossen werden.

Ein anderer weg, scheinbar fern jeder politik, könnte gangbar sein. Das ist der blick auf die person, so wie Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel in der öffentlichkeit präsent sind. Der fokus sind die kleinen marotten, die einen menschen liebenswürdig oder hassenswert machen, die aber ein indiz sein können, eine antwort auf die frage nach den zwecken ihrer macht zu finden. Das verfahren des individuellen blicks ist notwendig subjektiv und die resultate, soweit sie allgemeinverbindlichkeit beanspruchen, fallen immer streitig.

Ich denke, dass Kohl, Schröder und Merkel die fehlende substanz ihrer politik und den dieser politik zugrundeliegenden zweck mit bestimmten substituten ersetzen, die auf ihr machthandeln keinen nachweisbaren effekt haben, aber im bewusstsein der menschen zu symbolen transformiert worden sind, die das manifestieren, was einer politischen vision gleichgestellt werden kann. Von Helmut Kohl wird erzählt(11), dass seine erste amtshandlung als bundeskanzler gewesen sein soll, in seinem neuen amtszimmer die Strickjacke abzulegen; das amtszimmer als seine wohnstube, das ist das bild, das sich eingeprägt hat und die beurteilung seiner person auf dauer festlegte. Vom noch amtierende bundeskanzler werden diese geschichten kolportiert: wenn der Gerhard eine imbissbude in den blick kriege, dann ist die Currywurst sein himmelreich auf erden, aber diesen geschichten traue Ich nicht, weil sie mit den photos nicht zusammenpassen, die einen Gerhard Schröder zeigen, der die dicke Havanna zwischen den zähnen hat und die designerklamotten auf dem leib. Und Angela Merkel? - keine vergleichbare anekdote, einfach nichts, nicht einmal die frisur verspricht einen anhaltspunkt, aber auch die leere kann ein symbol sein.

Symbole sind bedeutungsschwer, aber in der bedeutungsschwere verschwindet der sinn des symbols. Mein versuch, den zweck zu bestimmen, der die machtausübung der herren Kohl und Schröder geleitet hat und die machtausübung der dame Merkel leiten könnte, ist methodisch an seinem ausgangspunkt angekommen. Ich habe keine antwort, jedenfalls keine anwort, die irgendeine aussicht auf allgemeine verbindlichkeit haben könnte. Macht - wozu? Was bleibt, das ist das spiel mit der macht. Abstrakt ist das ein glasperlenspiel, konkret ist es in dem reformgerede der zeit, dessen drehbuch die agenda 2010 ist.

der subtext:

(1) immer wieder wird die anekdote erzählt, die den juso Schröder zum protagonisten hat, und mit jeder neuen erzählung wird klarer, dass die anekdote eine hübsch erfundene geschichte ist, die conditio sine qua non jeder legende. Vermutlich hatte der juso Schröder mal am zaun des bundeskanzleramts in Bonn gestanden, und was sonst in der andekdote erzählt wird, das sind deutende erinnerungen, peu á peu hinzugefügt.  <==//
(2) ein historisches ereignis ist ein factum der vergangenheit, das nur im moment der gelebten gegenwart, wenn das individuum als ich es erinnert, real ist. Im akt der erinnerung stellt sich aber das problem der historischen wahrheit oder falschheit nicht; etwas anderes sind die dokumente der historia, die von einem historischen ereignis kenntnis geben. Diese können wahr oder falsch sein im kontext eines konsenses über historische wahrheiten. Das sind zwei sachverhalte, die in der analyse strikt unterschieden werden können, die in der synthese des analytisch getrennten miteinander verknüpft sind. Die synthese ist der ort einer historischen wahrheit, aber diese ist hier nicht der gegenstand der diskussion.  <==//
(3) in einem gespräch 1992* hatte Richard von Weizsäcker darüber klage geführt, dass die parteien der Bundesrepublik Deutschlands
machtversessen, aber machvergessen seien. Es werde nur noch über die strategien der macht geredet, nicht aber über die zwecke der macht diskutiert.
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* Ich schöpfe aus einer indirekten quelle: Roderich Reifenrath, Kraft und Wirkung des Wortes. Frankfurter Rundschau/12.04.2000. v.Weizsäcker hatte die termini in einem gespräch 1992 mit Gunter Hoffmann (DieZeit) und Werner A.Perger (Süddeutsche Zeitung) benutzt.  <==//
(4) pardon, im sinne der political correctness müsste Ich schreiben: politikerInnen, aber was für ein wortungetüm, bestens geeignet, schwachsinn zu benennen. Ich gebe dem stil den vorrang und ignoriere ein gerede, das vorgibt, objektiv zu sein, aber handfeste partikulare interessen verfolgt. <==//
(5) vielleicht ein zufall, aber in meiner reihe: zitat des monats, kommt Angela Merkel im september 2005 zu Wort. Helmut Kohl hatte die reihe im juli 2001 eröffnet, und Gerhard Schröder hält mit dem januar 2004 in etwa die mitte, wo er so gerne sein möchte.
cf. bibliographie -->textsammlung: zitat des monats  <==//
(6) aber was sind die res gestae der herren Kohl und Schröder und der dame Merkel? Die aufzählung kann nicht vollständig sein, aber sie wird immer parteiisch ausfallen und das maass sind die interessen, die jeden leiten. Aus meiner perspektive ist die bilanz ihrer res gestae negativ.
Was sind die res gestae des herrn Kohl, bundeskanzler a.D.? Es liegt im zeitablauf, dass die liste seiner res gestae nahezu abgeschlossen ist. Eine tat war die geistig moralische wende 1982/83, aber im öffentlichen bewusstsein ist davon nur der parteispendenskandal hängengeblieben und das missbrauchte ehrenwort. Eine andere tat ist die wiedervereinigung Deutschlands, aber die war dem herrn Kohl zugefallen wie der jungfrau das kind und seine versprochenen blühenden landschaften sind die schuldenberge der öffentlichen haushalte. Die anpassung Deutschlands an den globalen wandel nach dem fall der mauer tönt wider im kakaphonischen gerede vom reformstau, das für die nachfolger die billige ausrede ihres nichtstuns ist. Bleibt als tat die erweiterung der Europäischen Union, für die herr Kohl mit seiner mutigen entscheidung, eine gemeinsame währung einzuführen, ein dauerhaftes fundament mitgeschaffen hat; zwar funktioniert in diesem neuen Europa vieles nicht befriedigend, aber eine ordnung in statu nasciendi kann nicht perfekt funktionieren.
Was sind die res gestae des herrn Schröder, noch amtierender bundeskanzler? Die menge seiner taten ist vielleicht kleiner, aber in ihren konsequenzen dürften diese geschichtlich nachhaltiger wirken als die taten Kohls. In öffentlicher doppelrede hat herr Schröder klammheimlich die neoliberale wende in Deutschland durchgesetzt und unter dem trügerischen slogan: arbeitsplätze schaffen, dem kapital jenen freiraum verschafft, der dem shareholdervalue alle optionen einräumt, die der arbeit entzogen worden sind. Auf der einen seite haben die diversen steuerreformen die kluft zwischen reich und arm in Deutschland vergrössert*, auf der anderen seite wird die agenda 2010 ein drittel der gesellschaft pauperisieren.
Und was sind die res gestae der frau Merkel, kanzlerkandidatin 2005? der korpus der res gestae ist klein, weil sie noch an der schwelle der macht steht, aber innerparteilich hat sie ihre marken bereits gesetzt und als chefin der opposition hatte sie an der agenda 2010 aktiv mitgearbeitet, die sie unter anderem titel fortführen wird, die indizien dafür sind eindeutig.
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* cf.Der Spiegel, 34/2005,p.56 <==//
(7) so ein paper, wie es neudeutsch heisst, gibt es; Gerhard Schröder hat es mit Tony Blair, dem englischen premierminister, verfasst (dokumentiert in der Frankfurter Rundschau, 10.06.1999). Im stil ist dieses paper eines der memoranden, die in den verwaltungen zuhauf von den beamten aufgeschrieben werden, die dem gerade amtierenden herrn dienen. Es ist ein kompilat von gemeinplätzen, leerformeln, doppelseitigen aussagen und widersprüchen. In einer frühen notiz (12.06.1999) hatte Ich mir auf dem rand notiert: intellektueller dünnschiss und verlogen, dann lieber gleich FDP a la Westerwelle. <==//
(8) die utopie ist eine projektion in die zukunft und die utopischen bilder sind die gespiegelten facta der vergangenheit, die das individuum als ich erinnert. Diese bilder sind nicht die reale welt, die das ideologische vorurteil als phantasmata denunziert, und die, wenn das individuum als ich sie im moment der gelebten gegenwart imaginiert, in ein factum der vergangenheit transformiert sind, die sich von den anderen facta der vergangenheit nicht unterscheiden, aber diese utopischen bilder, erinnert im moment der gelebten gegenwart, sind ein korrektiv zu jenen facta der vergangenheit, mit denen das individuum als ich in seiner gelebten gegenwart konfrontiert ist und die es als realen schrecken erlebt. Das problem, wie unter den bedingungen des 21.jahrhunderts utopien geträumt werden können, kann Ich hier beiseitestellen, das ist nicht der gegenstand dieses essays, aber die funktion der utopie darf nicht ignoriert werden, wenn der existenz der menschen im 21.jahrhundert noch das prädikat: human, zugeordnet werden soll.  <==//
(9) es sollte nicht ignoriert werden, dass die funktion der utopie auch für die machtträume gilt, die als verbrecherisch klassifiziert werden. Die utopie ist ein mittel, und jedes mittel kann auch für verbrecherische zwecke instrumentalisiert werden. Die bewertung hat ihren grund im zweck, nicht im mittel, diese differenz sollte beachtet werden.  <==//
(10) der volksmund charakterisiert die situation mit dem spruch: wo nichts ist, da kann auch nichts werden. Mir könnte vorgeworfen werden, dass Ich mir die beantwortung der frage nach dem zweck der macht zu leicht gemacht habe. Es sei doch nicht zu bestreiten, dass die herren Kohl und Schröder und die dame Merkel unablässig ihre politischen ziele unter das volk gebracht haben, das sei doch material genug, daraus das abzuleiten, was als ihre zwecke gelten könnte. Die materialfülle ignoriere Ich nicht, aber ich mache geltend, dass Ich, wenn Ich diese aussagen zusammenfasse und zu einem bild umforme, bestimmte dokumente in der gleichen weise interpretiere, wie das meine kritiker auch tun. Es stehen also unterscheidbare interpretationen im streit und keine dieser interpretationen kann für sich beanspruchen, die authentische interpretation zu sein, die Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angelika Merkel ihren politischen äusserungen unterlegen wollen. Ich beanspruche, dass mein urteil zur kenntnis genommen wird, aber Ich beanspruche nicht, dass ein urteil akzeptiert wird. Das muss jeder für sich tun.  <==//
(11) in meiner erinnerung habe Ich die notiz, dass der Stern diese anekdote 1982 erzählt habe. Eine vage quelle, aber sie passt vorzüglich in die klasse jener erzählungen, die das etikett hat: hübsch erfundene geschichte. Ihr kritisches moment ist der verweis auf eine gewohnheit von Helmut Kohl, die für sich nicht tadelswert ist aber vielfach belegt, am bekanntesten dürfte das photo sein, das Helmut Kohl in strickjacke im gespräch mit Michail Gorbatschow zeigt.  <==//
 

stand: 05.12.04.

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