TEXTSAMMLUNG
die meinung des bürgers
ausgabe: (16)11-12/2010 november-dezember/2010 (blieb stehen bis 10/2011)

Ein heiermann - oder die kalte enteignung des bürgers.
Text und subtext.

Text.

Es ist schon erstaunlich, was die damen/herren der politikerkaste dem volk, dem dummen natürlich, so alles als reform verkaufen(01). Da lässt sich das mitglied des Bundestages, herr Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer sprecher der FDP-fraktion, vernehmen(02), dass das arbeitslosengeld (AlgI) von 24 monaten wieder auf 12 zurückgekürzt werden müsse. Für diese forderung, so scheint es, mag es triftige gründe geben, argumente, mit denen mathematisch korrekt, also zwingend, belegt wird, dass das system der arbeitslosenversicherung und, damit verknüpft, das ganze system der sozialhilfe für die gesellschaft zu teuer geworden sei(03). Den zahlen will Ich nicht widersprechen, wenn vorausgesetzt wird, dass das system der definierten koordinaten fraglos gilt; denn sie alle, die damen/herren der politischen klasse, können rechnen, sehr exakt sogar, wenn's darum geht, dass sie der ... sind, aber, gegen den komment erlaube Ich mir die frage, stimmen auch die koordinaten ihres kalküls? Ich frage, ob es richtig sein kann, die gesellschaft einerseits auf ein blosses kosten/nutzen-kalkül zu reduzieren, wenn andererseits unbestritten gelten soll, dass der gesellschaft die funktion zugeordnet ist, ihre mitglieder, gruppiert in gemeinschaften, in der existenz zu halten, eine funktion der gesellschaft, die nur dann erfüllt werden kann, wenn jedes mitglied der gesellschaft fähig ist, das eigene interesse zu verfolgen. Jede benannte zahl, gleichviel welche, fixiert nur seine ordnungsstelle in der zahlenreihe, seine bedeutung in der gesellschaftlichen ordnung aber können nur das individuum als ich und sein genosse definieren, die, jeder für sich, ein teil der gesellschaft sind, die ein ganzes ist(04). Was herr Johannes Vogel und die vielen anderen seines neoliberalen milieus, belegt mit scheinbar objektiven zahlen, fordern, das ist, vom ende her beurteilt, die kalte enteignung der bürger(05), die dann aus dem system herausgekegelt werden, wenn diese figuren für die gruppen der gesellschaft, gemeinhin belegt mit dem terminus: das kapital, nicht mehr profitabel genug funktionieren. Was herr Johannes Vogel gefordert hat, das ist im resultat die entschädigungslose enteignung der ersparnisse a la manière de Hitler et Stalin. Als blosses kalkül ist exakt prognostizierbar, wann ein bürger, gefangen im malstrom der sogenannten rentablen arbeit, seine im arbeitsleben angesammelten ersparnisse(06) wird aufgebraucht haben, um, abhängig vom sogenannten schonvermögen nach HartzIV, leistungen nach HartzIV überhaupt beantragen zu dürfen(07), in der möglichen hoffnung, den heiermann der neuesten reform als zugabe bekommen zu können. Wenn herr Johannes Vogel und die anderen seines milieus wiederholt behaupten, dass die in permanenz eingeleiteten reformen der HartzIV-gesetze den zweck haben, dem langzeitarbeitslosen die chance zu geben, sich zu ermächtigen, um über 1-Eurojobs und staatlich induzierten dumpinglöhnen im arbeitsmarkt sich wieder zu integrieren, dann ist dieses gerede von den chancen(08) ebenso zynisch wie die lügen des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der genosse, der unter dem klammheimlichen beifall der bosse den niedriglohnsektor 2000-2004 systematisch in der BRD etabliert hatte. Der niedriglohnsektor, die staatlich sanktionierte ausplünderunng eines grossen teils der gesellschaft, von Frau Merkel und ihrer entourage dann verfestigt, ist das probate mittel, die vom volk erarbeiteten werte, eigentum des arbeitenden individuums als ich(09), zum vorteil des besitzenden kapitals umverteilen zu können.
Subtext.
 
(01)
zur verhandelten sache zeigt der blick in die Westfälischen Nachrichten vom 28.09.2010 eine interessante konstellation von informationen. Breit wird auf der seite: 5, über die neueste reform der HartzIV-sätze, einschliesslich der üblichen tabellen, kommentierend berichtet, auf der Seite: 4, gleich gegenüberliegend, steht ein bericht aus dem landesparlament von NRW, der den leser darüber informiert, dass die damen/herren volksvertreter ihre bezüge wieder einmal reformiert haben. In Düsseldorf, ganz nah und in eigner sache, werden die funktionsbeilagen für bestimmte angehörige ihrer spezies, nur mal so und unabhängig von der parteizugehörigkeit, um 400€/monat aufgestockt, in Berlin aber, weit weg und in fremder sache, haben sie, protest und lob säuberlich getrennt nach regierung und opposition, gerademal 5€/monat anzubieten, ein heiermann, der die kulturelle teilhabe der HartzIV-ler sichern soll. Es wären armselige wichte ihrer zunft, wenn sie, die herren/damen der politischen kaste, für die ekklatante differenz keine gründe anzubieten hätten; denn kein grund ist aberwitzig genug, um nicht als argument gebraucht zu werden, wenn ein interesse gerechtfertigt werden soll - zumindest versuchsweise.  <==//
(02)
herr Johannes Vogel sagte: "Das längere Arbeitslosengeld für Ältere hilft den Menschen nicht, sondern verringert ihre Chancen auf ein selbstständiges Leben ohne Unterstützung"(*). In einem redaktionellen bericht der Frankfurter Rundschau wird sein parteifreund, der herr Christian Lindner, generalsekretär der FDP, in diesem Kontext so zitiert: "Zuvor hatte schon FDP-Generalsekretär Christian Lindner dafür plädiert, Erwerbslosen über 50 Jahre den Anspruch auf Arbeitslosengeld I auf zwölf bis 18 monaten zu verkürzen. Derzeit erhalten sie maximal 24 Monate diese Versicherungsleistung, bevor sie ins HartzIV-System fallen(**). Dem ist nur hinzuzufügen, dass herr Schröder 2004, damals chef einer SPD-geführten Bundesregierung, die geforderte dauer schon durchgesetzt hatte.
---
(*)
interview in der Frankfurter Rundschau, 20.09.2010,p.2-3. In diesem zitat steht die forderung: von 24 auf 12 monate verkürzen, nicht expressis verbis. Um den verdacht zu zertreuen, Ich könnte das zitat manipulativ verkürzt haben, zitiere Ich den passus einschliesslich der frage. Es steht geschrieben: "((Frage)) Der FDP-Generalsekretär schlägt zur Gegenfinanzierung des Gesamtpaketes ((das ist die HartzIV-reform,2010,ur)) vor, das verlängerte Arbeitslosengeld für Ältere wieder zurückzunehmen. Ist es sozial, bei denen zu sparen, die sich am Arbeitsmarkt ohnehin am schwersten tun? ((Antwort)) Ich unterstütze den Vorschlag. Das längere Arbeitslosengeld für Ältere hilft den Menschen nicht, sondern verringert ihre Chancen auf ein selbstständiges Leben ohne Unterstützung. Es ist Teil der Frühverrentungskultur, die wir beenden wollen. Darin sind sich die Experten weitgehend einig. Wir müssen den Unternehmen das Signal geben: Gebt den Älteren Chancen im Beruf, statt sie abzuschieben."
(**)
Markus Sievers: Kalkül mit Hartz IV. in: Frankfurter Rundschau, 20.09.2010,p.1.
  <==//
(03)
es sollte nicht aus dem gedächtnis fallen, dass die HartzIV-reform, 2004, auch mit dem argument gerechtfertigt worden war, das system der alten sozialhilfe durch ein modernes system der integrierten arbeitsmarktpolitik abzuschaffen. Vor allem sollte die widersinnige regelung beseitigt werden, nach der von den damaligen arbeitsämter kein sozialhilfeempfänger in arbeit vermittelt werden konnte. Die alte sozialhilfe ist als 2.buch aus dem SGB verschwunden und die regelungen zu HartzI-IV haben darin ihren platz gefunden, aber, von der öffentlichen berichterstattung weitgehend ignoriert, erschien die klassische sozialhilfe im 12.buch des SGB wieder, nahezu unverändert. Die entscheidende differenz aber ist heute geltendes recht und das begrenzt die klassische sozialhilfe auf die bürger, die nicht den vorschriften des SGB, 2.buch, unterliegen. Für die auf dem arbeitsmarkt arbeitslos gesetzten bürger wurden aber die bedingungen für die öffentlichen hilfen massiv verschlechtert. Wenn damals, in den jahren 2002 bis 2004, es eine ernsthafte politische absicht gewesen wäre, den arbeitsmarktpolitischen skandal der alten sozialhilfe zu beseitigen, um arbeitsfähigen und auch arbeitswilligen sozialhilfeempfängern die chance zu verschaffen, über die arbeitsämter in den arbeitsmarkt vermittelt zu werden, dann hätte dieses ziel ohne die ausschweifenden HartzIV-regeln bewerkstelligt werden können, einfach per gesetzesbeschluss. Das aber hatten 2002 bis 2004, unter dem klammheimlich beifall der claqueure in allen politischen kreisen, herr Schröder und seine helfershelfer nicht gewollt und sie nahmen billigend, das untere drittel der gesellschaft disziplinierend, die pauperisierung eines drittels der gesellschaft in kauf(*).
---
(*)
siehe: Ulrich Richter, Reformen ja! - aber nicht diesen murks. In: www.ur-philosoph.de //==>bibliographie //==>textsammlung //==>3.meinung des bürgers //==>(01)01/04-januar/2004, anmerkung. 3.
 <==//
(04)
siehe: Ulrich Richter, das prinzip der zahl: 1. In: www.ur-philosoph.de //==>bibliographie //==>textsammlung //==>1.argument des monats //==>(20)09/07 - september/2007.  <==//

(05)
der bürger, der glaubt, in der mitte der gesellschaft sich bequem platz verschafft zu haben, täuscht sich, wenn er meint, es ginge nur um die sogenannten HartzIV-ler, die, dem ondit folgend, faulenzer in der sozialen hängematte seien. Von der möglichkeit des sozialen absturzes sind alle bürger affiziert, die in der gesellschaft das privileg nicht haben, über ein vermögen zu verfügen, das soviel rendite abwirft, dass damit, frei vom zwang bürgerlicher arbeit, die bürgerliche existenz gestaltet werden könne. Die statistiken weisen aus, dass diese priviligierte position in der gesellschaftlichen hierarchie nur von wenigen faktisch goutiert werden kann(*1); denn diese position setzt den besitz von kapital voraus, das rechnerisch jährlich soviel an rendite abwerfen muss, dass damit zumindest das existenzminimum in der bürgerlichen gesellschaft abgedeckt werden kann(*2). Was dann noch bleibt, das sind wünsche, die durch das kalkül begrenzt sind(*3).

---
(*1)
in den statistiken zur verteilung der vermögen in der gesellschaft sind die einschlägigen zahlen ausgewiesen. Jährlich werden die zahlen zitiert, die anzeigen, wieviel das oberere zehntel der gesellschaft auf sich zusammengezogen hat, inzwischen sind das rund 60% des volksvermögens. Die hälfte der gesellschaft verfügt über kein nennenswertes vermögen(+) oder hat eine negative bilanz, vulgo schulden. Abgesehen von einer kleinen minderheit kann der bürger nur über seine bürgerliche arbeit als soziale sicherheit verfügen, eine sicherheit, die tag um tag, zunehmend brutaler geworden, auf dem prüfstand gestellt ist, und die, systemisch bedingt, dem malstrom neoliberalen denkens ausgeliefert wird, dessen resultat die kalten enteignung der arbeit ist.
---
(+) das sind die sprichwörtlichen ersparnisse des kleinen mannes, grosszügig reden die macher der einschlägigen gesetze vom "schonvermögen".
(*2)
was das absolute bürgerliche existenzminumum ist, das kann mit einer zahl nicht fixiert werden, und was der bürger, jeder für sich, als sein existenzminimum ansehen will, das kann nur subjektiv bestimmt sein. Es gibt aber indizien, mit denen das relative existenzminimum des bürgers bestimmbar ist, und eines dieser orientierungspunkte ist das steuerliche existenzminimum. Über die zahl in geld wird immer interessengeleitet gestritten und das maass dieser interessen können nur die eigenen vorstellungen und wünsche sein, soweit diese von dem genossen akzeptiert werden.
(*3)
der wunsch, so scheint es, ist ohne grenzen, aber die realität ist eine grenze, an der auch der milliardär beginnt zu rechnen, ob er die erfüllung seines wunsches wird auch bezahlen können.
<==//
(06)
es sollte auffallen, dass das sogenannte schonvermögen nach HartzIV von heute in etwa dem vergleichbar ist, was damals vor der sogenannten reform schon für die alte sozialhilfe gegolten hatte(*1). Aber die zahl in der klassischen sozialhilfe war eine andere als die, die damals für die arbeitslosenhilfe (ALHI) gegolten hatte(*2). Die alte arbeitslosenhilfe war, als 1974 das phänomen der langzeitarbeitslosigkeit unübersehbar geworden war, mit der zwecksetzung eingerichtet worden, den sturz aus der arbeitslosenversicherung sozialpolitisch abzufedern, um die sozialhilfe auf dauer zu vermeiden. Mit absicht hatten der herr Schröder und seine kompagnons 2004 dieses instrument der sozialpolitik beseitigt, weil es zur dauerhaften etablierung des geplanten niedriglohnsektors im wege stand. Was heute, wider besseres wissen, als eine der positiven wirkungen der arbeitsmarktreformen der regierung Schröder verklärt wird, das war das schibboleth gewesen, mit dem die macher der reform: HartzIV, ihre weitere gesellschaftliche existenz abgesichert hatten.
---
(*1)
es sollte hellhörig machen, was die politiker der FPP mit ihrer forderung bezwecken, wenn sie jetzt, 2010, meinen, den betrag für das schonvermögen signifikannt anheben zu sollen. Akut belastet diese gnade den bundeshaushalt nicht, aber prospektiv könnte das, wie in der debatte kritisch angemerkt wird, für einem teil der FDP-klientel künftig nützlich sein; denn man hat in der FDP und ihren kreisen sehr wohl registriert, dass langzeitarbeitslosigkeit nicht mehr das spezifische phänomen der schlecht ausgebildeten unterschicht ist, sondern sich zu einem problem für ältere arbeitnehmer ausgeweitet hat, das auch das untere sozialsegment der bürgerlichen mitte erfasst, arbeitnehmer, die, sich noch zur mitte rechnend, zwar über nennenswerte ersparnisse verfügen, aber nach auslaufen ihrer arbeitslosenversicherung im sozialen nichts fallen, solange, bis buchstäblich auch der letzte groschen verbraucht sein wird, bevor für sie die regelungen der rentenversicherung wieder greifen. Dem gros der HartzIV-ler aber mutzen die pläne der FDP, sollten sie gesetz werden, überhaupt nichts - mangels masse.
(*2)
die zahl war von den sozialgerichten in ständiger rechtssprechung den tatsächlichen lebensverhältnissen angenähert worden, weil die richter zumindest den zweck der arbeitslosenhilfe nicht aus den augen verloren hatten, der darauf gerichtet war, den langzeitarbeitslosen nicht in der sozialhilfe verschwinden zu lassen.   <==//
(07)
in der Frankfurter Rundschau hatte um 2005/2006 der karikaturist T.Plassmann diese situation exakt fixiert. Hinter seinem schreibtisch thront der berater der arbeitsagentur, so heisst die behörde im neudeutsch nach HartzI-IV. Davor ein ehepaar in gebückter haltung. Er, erkennbar ein fünfzigern, hält bittend in der hand ein papier. Darunter die zeile: arm sind wir nun und wie geht's weiter? (Ich zitiere aus dem gedächtnis).   <==//
(08)
herr Johannes Vogel redet klug von der chance, die eröffnet werden soll, weil er weiss, dass die lieferung erst dann erfolgen wird, wenn der arbeitssuchende seine chance genutzt hat. Es ist unverfroren, von einer chance zu schwafeln, wenn die reale politik alles unternimmt, dass die strukturen auf dem arbeitsmarkt so bleiben wie sie sind, mehr noch, wenn strukturen geschaffen worden sind und verfestigt werden, in denen die realen chancen auf arbeit, die dem arbeitende menschen das eigentum an der sache verschaffen, systematisch demontiert werden. Die beharrliche weigerung, zumal von FDP-politikern, einen mindestlohn(*) per gesetz zu verordnen, schafft situationen, in denen dem bürger, der arbeitslos gefallen ist, keine reale chance mehr belassen ist, mit eigener arbeit am gesellschaftlichen leben teilnehmen zu können. Was an ersparnissen vorhanden ist, das ist bald aufgebraucht, und der freie markt funktioniert nach dem gesetz des stärkeren, auf dem nur derjenige etwas gilt, der etwas zu tauschen hat. In der welt gibt es genug arbeit für jeden, wenn dem arbeitenden menschen das als eigentum gesichert ist, das er zu gleichen bedingungen am markt der güter tauschen kann, aber die organisation der märkte, präziser, die nichtregelung der märkte durch den staat, verpflichtet dem gemeinwohl, unterbindet den gerechten austausch, eine situation, aus der nur wenige einen nutzen ziehen, und auch diese räuber können sich der
geraubten beute nicht einmal sicher sein.
---
(*) im blick auf die allgemein geltenden arbeitszeiten und unter einbeziehung der abgaben an die sozialversicherung muss der mindestlohn so bemessen sein, dass das einkommen erzielt werden kann, das als steuerliches existenzminimum definiert ist. Mit dieser festsetzung dürfte unterbunden sein, dass der arbeitnehmer, bei voller leistung, genötigt ist, um ergänzende leistungen nach HartzIV überhaupt nachsuchen zu müssen.  <==//
(09)
siehe: Ulrich Richter, Die begriffe: eigentum und besitz, im trialektischen modus. In: www.ur-philosoph.de  //==> bibliographie //==>016:eigentum)   <==//
finis

stand: 23.01.30.
//eingestellt:  10.11.15.

zurück/übersicht        //
zurück/bibliographie     //
zurück/bibliographie/verzeichnis  //