TEXTSAMMLUNG
zitat des monats

ausgabe: 07/02 - juli-september/2002

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text:
 

Jedes Parlament dieser Welt, ich hab's nachprüfen lassen, zeigt seine früheren Repräsentanten, nur wir nicht.

Johannes Singhammer. MdB/CSU
zitiert nach: Jörg Schindler: Lieber ein blau-weisses Wappen. in: Frankfurter Rundschau, 17.05.2002.


kommentar:
 

Nun - Ich nehm's für bare münze, dass herr Singhammer, mitglied des Deutschen Bundestages, die sache nachgeprüft hat, bzw. nachprüfen liess. Also, alle parlamente der welt zeigen die ahnengalerie ihrer repräsentanten, das soll heissen: aller ihrer mitglieder. Wenn das der fall ist, dann dürften die herren abgeordneten in keinem parlament mit hinreichend langer tradition nie mehr ohne beschäftigung sein; allein die erinnerung ihrer tradition liesse den respektablen herren (und damen) keine zeit mehr für andere arbeiten (das könnte sogar ein segen sein). Aber den fall will Ich nicht auf seine logik untersuchen, Ich beschränke mich auf den kontext, in dem herr Singhammer seinen satz geäussert hatte und dieser ist der gegenstand des artikels in der FR.

Herrn Singhammer stören die graffiti im Reichstag, die sowjetische soldaten im ende des NS-regimes 1945 auf die wände des zerstörten reichstagsgebäude geschrieben hatten, und die beim neubau des bundestages mit der alten reichstagsfassade restauriert wurden und nun als teil der geschichte dieses gebäudes gezeigt werden. Wenn es nach Herrn Singhammer geht, dann werden diese historischen dokumente bis auf ein feigenblatt (geschichte muss nun einmal sein) beseitigt, und die wappen der bundesländer, das weiss-blaue der Bayern zumal, werden das auge der betrachter erfreuen, komplettiert mit "Bildern von diversen Ex-Regenten dieser Republik"(zitat:FR).

Ich bestreite herrn Singhammer nicht sein politisches ziel - meine analyse des zitats hat zum fundament dasselbe recht, auf das herr Singhammer sich auch beruft: die freiheit der meinungsäusserung (Art.5 I.1.GG). Wenn seine berufung auf das grundgesetz mehr sein soll als ein wohlfeiles lippenbekenntnis, dann wird herr Singhammer es sich gefallen lassen müssen, dass Ich die implikationen seiner pläne, öffentlich diskutiere.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass in gebäuden mit einer öffentlichen funktion bildreihen wichtiger vertreter der institution gezeigt werden - früher waren es z.t. ästhetisch bedeutsame porträtmalereien, heute erfüllen photographien den gleichen zweck. Diese dokumentationen weisen in der chronologie nicht selten lücken auf, die, forscht man ihren gründen nach, den blick auf die ahnengalerie verändert. Die ahnengalerie der präsidenten des Deutschen Bundestages (Ich schliesse darin auch die vorgeschichte von 1871-24.3.1933 ein) zeigt respektable personen, repräsentativ nenne Ich zwei von ihnen aus der jüngeren geschichte: Eugen Gerstenmaier und Herbert Wehner (alterspräsident). Die geschichte des deutschen parlaments notiert aber auch einen gewissen Hermann Göring (Reichstagspräsident, 1932-33), und Ich vermute, diesen herrn würde herr Singhammer als porträt wohl doch nicht aufhängen wollen. Aber, ob es uns heute passt oder nicht, dieser H.Göring ist ebenso ein teil der geschichte des deutschen parlaments wie es die graffiti der sowjetischen soldaten von 1945 sind.

Das problem ist der selektive blick der erinnerung, der, wenn er durch verdeckte politische interessen eingeschränkt wird, ein skandal ist. Aber jeder skandal hat als präziser seismograph des politischen bewusstseins der menschen in der gesellschaft auch eine aufklärerische funktion. Er zeigt die handlungsmöglichkeiten auf, zwischen denen das individuum als ich wählen kann, und die logik bestimmter strukturen schliesst bestimmte möglichkeiten aus, weil diese zu der bestimmten struktur in einem widerspruch stehen. Aufgrund der zeiterfahrung ist die erinnerung des ich immer selektiv, und ihre grenze ist der selektive blick der anderen, den jedes ich respektieren muss, wenn es selbst von den anderen respektiert sein will. Herr Singhammers wunsch nach einer ahnengalerie ist respektabel, sein plan aber, die graffiti der sowjetischen soldaten zu vernichten, lässt nach meinem dafürhalten nur den schluss zu, dass herr Singhammer die erinnerungen anderer nicht respektieren will oder kann, und das macht seinen wunsch verdächtig und unglaubwürdig.


stand: 02.09.30.

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