TEXTSAMMLUNG

zitat des monats
ausgabe: 10/02 - oktober-dezember/2002
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text:

Lo importante es conservar la idea.  (Entscheidend ist es, die idee zu bewahren.)

Mstislav Rostropóvich: "Bach no necessita ninguna ayuda" (Bach braucht keine hilfe).
in: El País, 04.02.2002, p.37 (interview)


kommentar:

Die bedeutung eines textes, als zitat instrumentalisiert, wird für den adressaten erst dann erkennbar, wenn der adressat den kontext des zitats mit in seine reflexion einbezieht. Darum muss Ich hier das schöne, griffige fragment um die frage erweitern, die Rostropóvich unmittelbar davor gestellt und sogleich mit dem zitat beantwortet hatte: ¿Tendríamos que hacerlo en englés antiguo para ser fieles? (frei übersetzt: müssen wir es im alten englisch sagen, um Shakespeare treu zu sein?).

Für Rostropóvich, den musiker, ist es das problem der authentischen interpretation der alten musik - für die literaten und philosophen ist es das problem der alten texte, philologisch gesichert, die in die reflexionen der gegenwart eingebunden werden sollen. Was zuerst als ein textimmanentes problem erscheint, erscheint mir vor allem ein problem der eigenen welterfahrung zu sein.

Was geschieht, wenn Ich ein werk von J.S.Bach höre, das Rostropóvich in einem konzert auf dem cello spielt? Ist es der Bach von 1725 oder ist es ein geräusch im jahre 2002, schwer mit sinn beladen, das Ich in einem interieur goutiere, das es zur zeit Bachs nicht gegeben hatte? Ist es zutreffend, von einer idee zu sprechen, deren kern von Bach bis heute unverändert geblieben ist? (vom musikhistorischen problem der authentischen interpretation will Ich hier absehen). Wer diese these behauptet ist ebenso beweispflichtig wie Ich, der diese these verneint, und Ich denke, dass mein argument überzeugen kann.

Soweit der philologische streit um die textgestalt entschieden ist, kann unbestreitbar nur behauptet werden, dass ein text vorliegt. Soweit die fakten nicht bestritten werden, ist auch der historische kontext bekannt, in den jeder text im moment der entstehung und seiner überlieferung eingebunden ist, aspekte, die die möglichkeiten einer plausiblen deutung eingrenzen. Was dann noch bleibt, ist das werk derjenigen, die den text interpretieren und in dieser arbeit sich zu eigen machen; auf der einen seite ist es der musiker, der gestaltend einen notentext hörbar macht, auf der anderen seite ist es der hörer, der ein akustisches ereignis verstehend und deutend wahrnimmt. Was den musiker wie den hörer zusammenbindet ist der moment der gelebten gegenwart, in dem die idee des textes aufleuchtet, die der musiker wie der hörer, jeder für sich, in ihrer zeiterfahrung formulieren. Zwei von dem text evozierte ideen erscheinen im moment des glücks als gleich und austauschbar. Dieses glück aber verliert sich in der zeit und muss von jedem immer wieder neu geschaffen werden. Authentisch ist die interpretation des textes dann, wenn sie dieses glück erlebbar machen kann - für den musiker ist der rückgriff auf historische instrumente, alte spielweisen und stilechte ambientes dafür keine bedingung, und dem philosophen genügt die sprache seiner zeit.

stand: 03.01.03.

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