TEXTSAMMLUNG

zitat des monats
ausgabe: 10-12/04 - oktober-dezember/2004  (und 01-03/05 januar-märz 2005)

text:
 

der engel: wird es immer reiche und arme geben?
gottvater: "immer" ist ein sehr weites wort, sagen wir besser "im moment".

qu.: Maximo, in: El País, 03.02.2002,p.15 (1)


kommentar:

auch das bild kann als zitat instrumentalisiert werden. Hier ist der fall einfach gestaltet, und, weil dass bild und der text miteinander konkurrieren, kann es offen bleiben, ob der autor seinen akzent auf die information des bildes oder des textes legen wollte; in der wahl seines akzentes ist der rezipient frei. Ich interpretiere die karikaturen Maximo's eher aus den beigefügten texten und weniger aus den bildern, die bestimmte situationen oft stereotyp darstellen(2).

Der gegenstand des dialogs ist eindeutig: gottvater diskutiert mit einem mitarbeiter, ob die spaltung der gesellschaften in arm und reich ein notwendiges moment der schöpfung sei oder nicht. Der mitarbeiter ist kategorisch und will eine andere möglichkeit als das, was ist, nicht in betracht ziehen. Gottvater ist skeptischer, vielleicht auch ein wenig enttäuscht und fügt sich, die hoffnung nicht ganz beiseitelegend, resigniert in das faktische. Seine schöpfung ist nicht das geworden, was er im moment des schöpfungsaktes intendiert hatte.

Für seine geschöpfe aber ist die fehlgeschlagene schöpfung(3) ein existenzielles problem. Es ist ein faktum, dass die modernen gesellschaften in arm und reich gespalten sind(4). Weil anderes nicht vorstellbar zu sein scheint, wird das faktum in ein ehernes gesetz umgedichtet und die welt danach gestaltet; folglich muss es als logisch erscheinen, dass die gesellschaften in arm und reich gespalten sind, weil sie in arm und reich gespalten sein sollen.

Ich bestreite das faktum der spaltung in arm und reich nicht, aber es ist zirkelschlüssig gedacht, wenn das faktum der spaltung als ein mangel in der schöpfung gottes interpretiert wird. Ich halte dagegen, dass die spaltung der individuen als ich in arme und reiche eine der bedingungen dafür ist, dass individuen in der gesellschaft mit anderen sich als ich erfahren können. Der grund für den skandal, den die spaltung der gesellschaften in arme und reiche erregt, ist ein anderer. Als relationsbegriffe sind die begriffe: arm und reich, nur in ihrer relation zueinander begreifbar. Wer als arm gilt, das ist zureichend nur im horizont des reichen bestimmbar; ebenso kann der reiche sich nur im horizont des armen als reicher selbst bestimmen. Was die differenz bestimmt, das sind die interessen, die jeder für sich verfolgt und die zumeist in einem gegensatz zu den interessen der anderen stehen. Es ist schlicht ein mangel in der definition der eigenen interessen, wenn in einer gesellschaft die verfügbaren materiellen güter so krass verteilt sind, dass die alles habenden nicht wissen, was sie mit den angehäuften sachen vernünftig anstellen sollen, und die anderen, die von diesen gütern ausgeschlossenen sind, nicht wissen, wie sie sich die zur reproduktion ihrer existenz erforderlichen mittel verschaffen können. Der blendende glanz auf der einen seite ist der tödliche schatten auf der anderen. Wer solche gesellschaftlichen ordnungen als ideale ordnungen sichvorstellt(5), der ist, weil er schwach ist, unfähig, für die gesellschaft als ein ganzes die sicherheiten zu schaffen, die für eine humane existenz, die allen gelten soll, erforderlich sind.

Komplexe gesellschaften funktionieren ebenso wie die scheinbar einfachen gesellschaften nach dem prinzip des tausches, und der tausch in einer gesellschaft kann nur gelingen, wenn alle, die wollen, an diesem prozess teilnehmen können. Sowohl in den gebrauchsgegenständen wie in den gegenständen der entgrenzten warenwelten des kapitalismus alter und neue prägung erscheint die arbeit transformiert, die jeder in seinem lebensvollzug leistet und im sozialen prozess mit den anderen austauscht. Dieser austauschprozess ist dann gestört, wenn die güter, in denen jedes individuum als ich für sich seine arbeit transformiert gespeichert hat(6), nach dem prinzip getauscht werden, dass derjenige, der hat, immer mehr kriegt, und derjenige, der nur wenig hat, immer weniger erlösen kann(7). Der einwand ist berechtigt, dass der wert der arbeit eines individuums als ich nicht objektiv bemessen werden kann, aber dieses argument taugt nicht als rechtfertigung für die krasse missverteilung der güter in den meisten gesellschaften der welt. Auch die utopie einer egalitären gesellschaft kann die absolute gleichheit aller nicht leisten, weil die wertvorstellungen der individuen als ich sich einer mathematischen gleichheit nicht unterordnen lassen. Es muss eine bandbreite von ungleichheit, mithin müssen auch die phänomene von armut und reichtum, in die konstruktion einer gesellschaft mit einbezogen werden, die als eine humane gesellschaft bezeichnet werden kann, aber diese bandbreite muss so bemessen sein, dass jeder, der es will, an den austauschprozessen in der gesellschaft als subjekt teilnehmen kann und nicht als objekt auf dem spieltischen der finanzmärkte rumgeschoben wird.

Vielleicht ist es diese idee gewesen, dass gottvater noch von einer utopie träumen kann, wenn er einem seiner manager entgegnet: de momento.

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Anmerkungen:

(1) digamos que "de momento"; die phrase ist schwer übersetzbar; grammatikalisch liegt eine satzverkürzung vor: grammatisch korrekt lautet der satz so: Digamos, que de momento hubiere ricos y pobres.      <--//

(2) die dargestellte szene kann mit vielen ähnlich strukturierten dialogen angefüllt werden. Meine bemerkung ist keine kritik der ästhetik des bildes, sondern ein verweis auf seine bestimmte funktion. Zudem muss die karikatur mit stereotypen arbeiten, um den kern eines gedankens wirkungsvoll transportieren zu können.    <--//

(3) die behauptung, dass die schöpfung fehlgeschlagen sei, ist eine meinung, die im blick auf die reale situation heute schwer widerlegbar ist. Aus dem faktischen aber ist nicht ableitbar, dass die eine oder die andere meinung auch wahr sein müsse. Für den meinende muss sie wahr sein, wer aber eine andere meinung rezipiert, für den ist das in keinem fall zwingend. Diese unterscheidung sollte nicht unterschlagen werden.   <--//

(4) das faktum der spaltung in arm und und reich ist nicht auch der beweis für diese spaltung. Wer so in einem kausalsystem operiert, der operiert mit einer tautologie, die in einem klammheimlichen zirkelschluss versteckt wird. Aus einer tautologie kann logisch nicht abgeleitet werden, dass es so auch sein muss, wie einige meinen, dass es so auch sein soll. Diese differenz wird immer dann ignoriert, wenn interessen im spiele sind.  <--//

(5) es kann darüber gestritten werden, ob die vertreter des neoliberalen denkens solche gesellschaftsmodelle überhaupt denken; Ich vermute eher, dass sie mit ihrem jargon nicht einmal fähig sind, für das geschehen auf dem alles regelnden markt überhaupt einen plan zu formulieren, der über das ziel hinausgeht, am abend mehr auf dem konto zu haben als am morgen. Dass der markt der neoliberalen, wenn er nur sich selbst überlassen bleibt, ein nullsummenspiel ist, bei dem der gewinn des einen der verlust des anderen ist, ist ein gedanken, den der neoliberale der börsen entweder unfähig ist zu denken, oder den die ideologen des neoliberalismus, weil sie es wissen, in ihrem zynismus mit wohlklingenden theorien kaschieren. <--//

(6) in seiner kritik des kapitals soll Karl Marx einmal davon gesprochen haben, dass das kapital geronnene arbeit sei. Ich greife diese formel auf, weil sie mir im kontex der bürgerlichen ökonomietheorien früher einmal aufgefallen und im gedächtnis geblieben war; im publizierten werk von Karl Marx habe Ich diese formel bisher nicht verifizieren können, der gedanke aber, das in den gegenständen der welt die arbeit des individuums als ich sich verdinglicht hat, greife Ich positiv auf, interpretiere aber das bild anders als es Karl Marx in seiner entfremdungstheorie als instrument der kritik an den herrschenden gesellschaftsverhältnissen seiner zeit benutzt hatte.      <--//

(7) es ist die logik des prinzips der zahl: 1, dass auf der einen ebene des arguments die relation identisch bleibt, auf der anderen ebene aber die relation sich verändert. 10% sind 10%, aber wenn die basis der 10%-ziffer einmal der wert 100 und dann der wert 1000 sind, dann erscheint die ziffer: 10%, einmal als der zahlenwert: 10, ein andermal als der zahlenwert: 100, und nach dem prinzip der zahl: 1, sind die zahlen: 10 und 100, nicht gleich.  <--//
 

stand: 04.10.22./05.04.15.

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