TEXTSAMMLUNG
zitat des monats
ausgabe: 09-11/05 - september-november/2005

text:

Vorfahrt für Arbeit ist Vorfahrt für Arbeit.
Angela Merkel, kanzlerkandidatin, CDU
originalton; gehört in der sendung von Peter Zudeick: satirischer wochenrückblick, 05.07.16, WDRIII, morgenecho


kommentar:
 

Für das zitat, das in einem anderen zitat als zitat erscheint, ist die fundstelle des zitats nicht unwichtig. Als fragment im jeweiligen ganzen hat es eine bestimmte funktion und mit der funktion auch einen bestimmten sinn, der den sinn des fragments in dem einen zusammenhang, so wie der urheber ihn intendiert hatte, in dem anderen zusammenhang geradezu auf den kopf stellen kann. Zu beachten ist auch, dass das zitat, wenn es im originalton zitiert wird(1), eine authentizität besitzt, die dem fragment eine bedeutung gibt, die auch der rezipient zu verantworten hat.

Das zitat drängt sich dem rezipienten geradezu auf: vorfahrt für arbeit ist vorfahrt für arbeit. Das grammatische subjekt ist mit dem prädikat des urteils identisch und das identische ist durch die kopula miteinander verknüpft. Formal ist der satz ein tautologischer satz, der sich wichtig gibt und nichts bedeutet(2) - eine apodiktische aussage, die einen verdacht impliziert, der bei einem politiker, und frau Merkel ist eine politikerin, keineswegs abwegig ist. Die fassade des tautologischen satzes verbirgt immer etwas. Der glanz der fassade, die bei dem adressaten eindruck macht, überblendet das verborgene und in der blendung ist dem adressaten des tautologischen satzes die deutung zugeschoben, die der urheber des satzes aber für sich beansprucht, wenn das gedeutete in seinem kalkül positiv verwertbar ist. Nach dem exkurs in die theorie der rhetorik könnte Ich nun drauflos fabulieren und deuten, was frau Merkel positiv intendiert haben könnte oder klammheimlich verbirgt mit einem satz, der brillant ist: vorfahrt für arbeit ist vorfahrt für arbeit. Der horizont für das spektakel: arbeit, ist also aufgezogen und die theatermacher sind "full in action"(3).

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(1) der WDR ist mir seit der jugendzeit als seriöser sender bekannt und Ich schätze Peter Zudeick als spöttischen chronisten; Ich vertraue also darauf, dass das zitat für die sendung nicht manipuliert worden ist. Jeder, der sich mit den dokumenten der historia auseinandersetzt, ist als rezipient den kommunikationsmedien ausgeliefert, deren avancierte techniken der materialbearbeitung keine textsicherheit garantieren können, weil der rezipient die möglichen technischen manipulationen nicht mehr erkennen kann. Früher war eine radierte stelle im text ein indiz und warnung zugleich, wenn heute die bits in der originaldatei gelöscht wurden, dann ist die löschung in der datei, die bereits eine kopie ist, nicht mehr nachweisbar. Die authentizität der dokumente verschwindet in ihrer technischen reproduzierbarkeit, auch das ist ein preis der moderne. <==//

(2) ein tautologischer satz ist eine aneinanderreihung von zeichen (termini), die mit beliebigen bedeutungen aufgeladen werden können. Was ein satz, also ein bestimmtes ding der welt bedeuten soll, das hat seinen grund in den dingen der welt, die dem bestimmten ding der welt das_andere sind. Für sich ist der tautologische satz beliebig. <==//

(3) die inszenierung der frau Merkel hat hautgout. Sozial ist, was arbeit schafft, sagt sie im programm ihrer partei; sehr nobel, aber der satz sollte im programm der partei stehen, die das wort: sozialdemokratisch, im namen führt und für die führt herr Schröder die regie. Als zuschauer des wahlkampftheaters kann Ich nicht mehr sicher unterscheiden, wer die autoren der wortkaskaden sind, mit denen die theatermacher das publikum überschütten. Welche arbeit meint frau Merkel eigentlich, wenn sie von der zu schaffenden arbeit redet? - vielleicht die arbeit, von der Karl Marx geträumt hatte und die nur der wohlhabende bürger sich leisten kann, oder sind es die Schröder'schen 1-Euro-jobs, die einen bedeutenden teil der bürger auf dauer im sozialgefängnis: agenda 2010, wegsperren werden? <==//


stand: 05.12.04.

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