TEXTSAMMLUNG

zitat des monats
ausgabe: 12/05 - dezember/2005   (blieb bis 03/06 stehen)
 

text:

Ist die gesellschaft vielleicht etwas anderes als ein grosser konzern, in der(in dem) jeder einzelne seine kräfte und seinen geist einsetzt und diese kräfte dem wohl der anderen widmet?
Gregor Melchior de Jovellanos (1744-1811, spanischer politiker und philosoph)
(zitat im original:
¿Por ventura es la sociedad otra cosa que una gran compania, en que cada uno pone sus esfuerzos y sus luces y los consagra al bien de los demas?
quelle: muralla de azulejos/ Gijon, Plaza seis de Agosto/gesehen: 05.09.16.


kommentar:

in der übersetzung hat das zitat einen anderen akzent, weil zum ersten ein satz nicht eins zu eins in eine andere sprache übersetzt werden kann, und zum zweiten, weil die wörter ihren eigenen sinnkontext haben. Der reiz, das originalzitat mit seiner übersetzung zu vergleichen, liegt darin, dass die interferenz der texte, und mag sie noch so klein sein, darauf verweist, dass die bezeichneten sachen in der realität komplexer sind als ein gewöhnlicher satz sie darstellen kann.

Ich habe für den ausdruck: por ventura, den ausdruck: vielleicht, eingesetzt, aber auch der terminus: glücklicherweise, ist erwägenswert, der dem spanischen ausdruck: ventura = glück, näher ist. Die wahl des ausdrucks aber ist bereits eine ausdeutung des zitats, die in diesem stadium der reflexion vorlaufend und unvermeidbar ist. Die zweite schwierigkeit der übersetzung ist der relativsatz, der im spanischen text mit dem ausdruck: en que, eingeleitet wird. Es ist nicht entscheidbar, ob das relativpronomen auf den terminus: sociedad, bezogen ist oder auf den terminus: compania. In der übersetzung deute Ich beide möglichkeiten an, stilistisch eine grobheit, in der sache offen, was der autor des zitats tatsächlich intendiert hatte(1), aber mit dem vorzug, dass die unentschiedenheit in der sache den blick auf ein feld von deutungsmöglichkeiten öffnet, die gegeneinander abgewogen werden können.

Es ist ein alter streit, was oder wer den vorrang habe, die gesellschaft vor dem individuum oder das individuum vor der gesellschaft; der streit ist kurzsichtig und unvernünftig, weil bei aller gegensätzlichkeit von gesellschaft und individuum, die gruppe eingeschlossen, weder die gesellschaft für sich noch das individuum in seiner gruppe für sich bestehen können. Teil und ganzes sind im trialektischen modus ohne das jeweils andere nicht denkbar, weil das individuum als ich von sich selbst in seiner sozialen gruppe und von der gesellschaft, die das individuum als ich trägt, nicht absehen kann. Es kann nur im blick auf sich selbst in seiner gruppe und im blick auf die gesellschaft als ganzem bestehen. Wenn diese überlegung gültig sein soll, dann muss das neoliberale credo absurd erscheinen, dessen maxime die meinung ist, dass allein die (privat-)wirtschaft der garant des glücks der menschen sein könne, wenn diese in einem sogenannt schlanken staat prosperiere. Die strikte teilung in den staat(=gesellschaft) einerseits und die privat agierenden gruppen (=individuum) andererseits mag dem neoliberalen ideologen als das heil erscheinen, aber die facta der vergangenheit deuten unmissverständlich darauf hin, dass dieses rezept in der geschichte noch nie funktioniert hatte. Thomas Hobbes hatte in seinem hauptwerk: Leviathan (1651), die summe seiner bürgerkriegserfahrungen gezogen, als er darauf bestand, dass der einzelne nur dann im frieden leben könne, wenn er seine freiheit dem allmächtigen staat überantwortet, der auf grund dieses vertrags verpflichtet ist, ihm schutz zu geben(2). Der systemische gegensatz von gesellschaft und individuum ist nicht aufhebbar, aber er kann vom individuum als ich gestaltet werden. Dass die neoliberalen rezepte nichts taugen, kann Ich im blick auf die ergebnisse der letzten 25jahre behaupten. Die gesellschaft ist kein konzern, der mit hohen renditezahlen seinen erfolg für die shareholder beweisen soll oder muss. Das gemeine wohl, bedingung, dass jedes individuum als ich sein glück finden kann, ist nicht die kalkulation des privaten profits(3), sondern eine kalkulation des wechselseitigen vorteils. Kein konzern kann das gemeine wohl realisieren, weil jeder konzern in der konkurrenz mit anderen konzernen auf den eigenen profit verwiesen ist, um im konkurrenzkampf bestehen zu könnnen; jeder ist partei in einem mörderischen verteilungskampf, der, wenn er ungeregelt abläuft, nur dem gewalttätigsten ein überleben auf zeit sichern kann. Die aufgabe der gesellschaft aber ist es, im sinne des gemeinen wohls, die regeln zu setzen, die allen beteiligten eine reale chance einräumen, das eigene glück zu verfolgen. Wenn das individuum als ich sein glück verfolgt, dann muss es seine fähigkeiten sowohl zum eigenen nutzen als auch zum gemeinen wohl einsetzen, aber das kann es nur, wenn die gesellschaft stark ist, die erforderlichen regeln für den ausgleich der gegenläufigen interessen zu setzen.

anmerkungen:

(1)

mein gegenstand ist ein zitat, das mir nur in seinem text bekannt ist. Ich habe nicht den geringsten anhaltspunkt, in welchem kontext Jovellanos diesen satz formuliert hatte. Das nichtwissen kann als mangel bewertet werden, aber das nichtwissen muss kein mangel sein, wenn das zitat in einem anderen kontext aufgenommen wird, in dem es sich als ein selbstständiges argument bewähren muss. Damit ist die grenze meiner reflexion bestimmt.  <==//
(2)
Hobbes' Leviathan ist, wie jeder text, seiner zeit verpflichtet, und was Hobbes für seine zeit als heilmittel propagiert hatte, das ist mit den erfahrungen danach, insbesondere den erfahrungen der aufklärung im 18.jahrhundert und den totalitären systemen des 20.jahrhunderts nicht in jedem fall kompatibel. Diese feststellung relativiert den grundgedanken Hobbes', dass das individuum als ich seine autonomie nur dann leben kann, wenn es sich an seine autonome entscheidung selbst bindet. Für Hobbes war es noch möglich gewesen, einem gesellschaftsvertrag zu vertrauen, der von einem absoluten herrscher, dem könig, garantiert wurde, Diese auflösung des problems der gebundenen freiheit ist im 21.jahrhundert nicht mehr akzentabel. Im eigenen verständnis müssen die menschen heute neue institutionen schaffen, denen sie sich vertrauend unterstellen können, damit sie den widerstreit der interessen in der gemeinschaft in zivilen formen bewältigen können. Ich bezweifle, dass das kampfgeschrei der neoliberalen ideologen geeignet ist, diese anstrengungen zu unterstützen.  <==//
(3)
die pragmatische vernunft gebietet es, die realisierung des gemeinwohls mit den vorgaben des kosten-nutzen-kalküls kompatibel zu halten; es wird immer dinge geben, die im sinn des gemeinwohls wünschenswert sind, für deren realisierung aber die ressourcen in der gesellschaft nicht vorhanden sind. Das gemeinwohl ist mit einem gewinnstreben nicht vereinbar, das in der nullsummenrechnung immer zu lasten des anderen geht, und das ist der schwächere, gleichviel aus welchen gründen der einzelne ökonomisch schwach ist.  <==//


stand: 06.04.01.

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