TEXTSAMMLUNG

zitat des monats
ausgabe: 01-03/07 - januar-märz/2007

text:

"Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu."
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales, Vizekanzler.
zitiert nach: Frankfurter Rundschau, 17.10.2006, p.1.


komentar:
 

Das zitat, eine eintagsfliege, war schnell daher geredet - es erregte kurz ein mediales echo und verschwand im orkus des vergessens. Aber die öffentliche reaktion auf das wort Franz Münteferings war nicht angemessen. Obgleich die äusserung prima vista banal erscheint, so provoziert sie secunda vista eine reflexion, die abseits des aufgeregten tagesgeschäfts der Berliner Republik(1) zwei fragen zum gegenstand hat. Wie erfassen die menschen ihre soziale realität kognitiv? Was sind die sozialen tatsachen in der Bundesrepublik Deutschlands?

Die erste frage.
Mit der kategorischen behauptung, dass es in Deutschland keine schichten gäbe, ignoriert Franz Müntefering die erkenntnistheoretische bedingung, die seine behauptung trägt(2). Er übersieht, dass der begriff: schicht, das phänomen: schicht, und der terminus: schicht, drei verschiedene weltdinge sind, die analytisch strikt auseinandergehalten werden müssen, die aber, wenn sie momente eines arguments sind, ihren sinn in der synthese des analytisch getrennten haben. Mit dem terminus: schicht, werden in der soziologie(3) soziale phänomene bezeichnet, die nur dann voneinander unterscheidbar sind, wenn ein begriff verfügbar ist, mit dem diese unterscheidung bewirkt wird. Es ist also erforderlich, genau hinzusehen, was der terminus: schicht, bezeichnen soll, der ein zeichen ist, das aus definierten buchstaben komponiert ist, die nichts spezifisches bedeuten. Der mit dem terminus: schicht, bezeichnete begriff ist aber nicht das phänomen, das mit dem terminus: schicht, etikettiert wird. Den begriff: schicht, definiert das individuum als ich mit merkmalen, die seine vorstellung eindeutig fixieren, was unter den dingen der welt als phänomen eine soziale schicht sein soll und was als phänomen keine soziale schicht ist(4). Der begriff: schicht, unterscheidet die dinge der welt nach dem prinzip: tertium non datur; das ding der welt genügt als phänomen entweder den bedingungen des begriffs, dann ist das phänomen eine schicht, oder das phänomen genügt den bedingungen nicht, dann mag das phänomen sein, was es will, eins ist das phänomen nicht, es ist keine schicht im sinne des begriffs. Was aber auf der begriffsebene eindeutig unterschieden ist, das ist auf der ebene der phänomene keineswegs so eindeutig unterscheidbar; die phänomene in raum und zeit sind variabel und parieren den begriffen nicht, sodass die einordnung der unterschiedenen phänomene immer wieder streitig fällt. Die soziale realität entzieht sich der eindeutigen festlegung, und was dem einen als eine soziale schicht erscheint, das ist dem anderen nur ein soziales milieu(5), das mit dem begriff: schicht, nicht zureichend erfasst werden kann. In analytischer absicht ist es methodisch zulässig, die argumentebenen des terminus, des begriffs und des phänomens voneinander zu trennen, aber wenn in der bewertung des analytisch getrennten die argumentebene synthetisierend miteinander verknüpft werden, dann können die relationen zwischen zwei ebenen nur im horizont des jeweils ausgeschlossenen dritten moments zureichend erfasst werden(6). Wenn darüber gestritten wird, ob der terminus: unterschicht, dem begriff: soziale struktur der gesellschaft, angemessen ist, dann kann diese debatte nur im horizont der ausgeschlossenen phänomene sozialer realitäten sinnvoll geführt werden. Das gilt auch, wenn die soziale realität in den blick genommen wird, die nur im horizont bestimmter begriffe angemessen erfasst werden kann. Die relation zwischen dem begriff: schicht, und den phänomenen der sozialen schichten, die zwischen einem HartzIV-empfänger und einem manager vom typ: Ackermann, gespannt sind, hat in den termini: schicht oder abgehängtes prekariat, als dem ausgeschlossenen dritten moment ihren horizont. Die kognitive erfassung der gesellschaftlichen realität kann nicht darauf reduziert werden, dass der politiker quasi per ordre de mufti sagt, es gäbe in Deutschland keine (sozialen) schichten(7).

Die zweite frage:

Wenn herr Müntefering einräumt, dass armut in Deutschland kein unbekanntes phänomen sei, dann sagt er sicher nichts falsches. Ihm  sollte als sozialdemokraten noch geläufig sein, dass das wissen um den gesellschaftlichen skandal: armut(8), das fundament der sozialdemokratie ist. Die politik, die sozialdemokraten wie August Bebel und Willy Brandt verantwortet hatten, nutzte dieses wissen, um die reale not zu beseitigen. Neu in der geschichte der deutschen sozialdemokratie ist aber, dass die kluft zwischen arm und reich durch politiker erheblich ausgeweitet worden ist, die sich selbst sozialdemokraten nennen, die seele der partei aber an die finanzspekulation verscherbelt haben. Diese entwicklung ist exakt datierbar; sie begann mit der regierung Kohl, 1982, und herr Schröder beschleunigte als bundeskanzler 1998ff den prozess der sich ausweitenden spaltung der gesellschaft. Von den maulfertigen politikern kann heute nicht mehr schön geredet werden, dass die armut in der Bundesrepublik Deutschland ein faktum ist, das in seinem ausmaass nicht mehr versteckt werden kann(9). Die armut ist sichtbar, wenn man durch die städte geht und den eigenen horizont nicht auf Kö in Düsseldorf eingeschränkt hat. Der skandal: armut, wird nicht mit sprüchen beseitigt, die nicht mehr aufklären sollen.

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Anmerkungen:

(1)

Müntefering reagierte auf das missliebige ergebnis einer studie zur sozialstruktur der BRD*; die reaktion ist symptomatisch für das politische klima in der Berliner Republik; denn als politiker und sozialdemokrat musste sich Müntefering ertappt fühlen und wie ein schuljunge reagierte er; er streitet alles ab. Aber das kann ihn nicht entlasten; denn er selbst war es, der mit herrn Schröder das soziale problem verschärft hatte, das er nun vergeblich verneint; die armut in der BRD ist kein randproblem der gesellschaft mehr.
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* pikanterweise ist die studie in der SPD-eigenen Friedrich-Ebert-Stiftung erarbeitet worden.  <==//
(2)
auch wenn die forderung als übermaass missverstanden werden könnte, so ist die forderung, dass politiker auch wissen sollten, was die erkenntnistheoretischen grundlagen ihres tun sind, keineswegs unbillig. Es mag sein, dass die damen/herren politiker der Berliner Republik die anforderungen an sich selbst auf das niveau der boulevardpresse abgesenkt haben, aber die absenkung ihres allgemeinen bildungsniveau ist kein grund, die forderung preiszugeben, dass der politiker auch in der hitze politischer auseinandersetzungen die bedingungen der rationalen kommunikation beachtet, es sei, dass ihm auch der böse verdacht schon scheissegal geworden ist, jede lage interessengeleitet schön reden zu wollen.  <==//
(3)
den terminus: schicht, hatten die soziologen im 20.jahrhundert aus der geologie adaptiert und für die beschreibung sozialer phänomene nutzbar gemacht. Nach dem 2.weltkrieg, als die emigrierte deutsche wissenschaft aus den USA wieder zurückkehrte, war es eine mode gewesen, die gesellschaft als eine "geschichtete" gesellschaft zu beschreiben. Und wer etwas gelten wollte, der musste sich auch in der BRD als schichtentheoretiker outen. Die zunehmende differenzierung der theorien verschob etwa ab 1970 den akzent von der schicht weg auf das milieu. In dieser tradition ist die aktuelle diskussion um die sogenannte unterschicht oder das abgehängte prekariat eingebunden.  <==//
(4)
in den theorien der sozialen schichtung werden die merkmale formuliert, die den begriff: schicht, definieren. Drei merkmale werden immer wieder genannt: einkommen, sozialer status (oder beruf) und formale bildungsabschlüsse. Die details der begriffsbildung können beiseitegestellt werden, da Ich nicht die absicht habe, eine lektion über die theorien der sozialen schichtung zu geben.  <==//
(5)
der terminus: abgehängtes prekariat, scheint eher für die bezeichnung des begriffs: soziales milieu, zu passen. Ob schicht oder soziales milieu, dass sind begriffe, die mit dem anspruch formuliert werden, die soziale realität zureichend zu erfassen. Es kann dahingestellt bleiben, ob die begriffe auch tauglich sind, diesen zweck zu erreichen. Auch der am besten fundierte begriff mag die realität nicht zu verändern, die der begriff unterscheidet.  <==//
(6)
die methode, die erkenntniskritisch motiviert ist, bezeichne Ich mit dem terminus: trialektischer modus. Zu den details der methode und ihren historischen horizont verweise Ich auf die darstellung der methode in dem essay: Der Begriff: das_politische, im trialektischen modus. siehe bibliographie/ 014:das_politische. <==//
(7)
dass die gesellschaft sozial strukturiert ist und dass die spaltung der gesellschaft in arm und reich ein faktum ist, darüber kann nicht gestritten werden, gleichwohl kann, ja muss, darüber gestritten werden, ob die soziologischen theorien von heute geeignet sind, die struktur der gesellschaft plausibel zu beschreiben, um auf der basis dieser beschreibungen strategien zu formulieren, die die gestaltung der sozialen ordnung zum ziel hat. Das reformgeschwätz in der Berliner Republik ist ein teil dieser diskussion, aber was da geschieht wirkt eher abschreckend als motivierend, die aufgabe anzugehen, der keine generation sich entziehen kann. Was in den letzten 25 jahren, exakt mit dem beginn der kanzlerschaft von Helmut Kohl, unterlassen worden ist, das ist der organische umbau der gesellschaft; der mainstream globaler tendenzen folgte einer linearen wachstumsstrategie, die auf mehr nur ein noch mehr kennt, aber der turmbau zu Babel stürzte ein, bevor er an den himmel stiess....  <==//
(8)
die armut in einer gesellschaft ist nicht der fluch eines rachsüchtigen gottes, die armut ist das resultat der ungleichen verteilung der früchte, die die menschen sich erarbeitet haben. Sicher, die menschen früher zeiten hatten oft mit realer not zu kämpfen, weil sie der natur nur mühsam ihren eigenen anteil abgeringen konnten, aber was heute global geschieht, das ist das resultat von märkten, auf denen keine güter mehr getauscht werden, wohl aber finanzderivate mit gigantischen zahlen verzockt werden. Die armut in den megapolen und der zur schau gestellte reichtum in den finanzpolen, das sind die beiden seiten ein und derselben medaille.  <==//
(9)
in den tagen des sogenannten wirtschaftswunders hatte es in der Bundesrepublik Deutschland auch armut gegeben. Die gesellschaft hatte es aber verstanden, die formen der armut als ganzes aufzufangen und schamhaft zu verstecken. Deutschland prosperierte und nahm auch die armen noch mit; in jenen tagen war es einfach nicht chic, das krasse missverhältnis zwischen arm und reich offen zur schau zu stellen. Das änderte sich, als die finanzmärkte gemäss der neoliberalen doktrin von den märkten realer güter abgekoppelt wurden, und die umwälzung angehäufter finanzmittel der zweck der märkte wurde. Wenn auf den wirtschaftsseiten der presse heute von renditen geträumt wird, dann geht es nicht mehr um den gewinn in einer produktiven wirtschaftstätigkeit, sondern um den maximalen profit einer begrenzten spekulation. Aber das alte wissen ist darum nicht schlechter geworden, dass der wohlstand einer gesellschaft die frucht der arbeit aller ist, aber den reichtum hat eine kleine schicht von leuten mit ihrer spekulation aufgesogen, die nur eines haben, geld, aber keinen verstand und jeden anstand vermissen lassen. <==//
finis

stand: 07.04.09. /07.01.03.

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