TEXTSAMMLUNG
zitat des monats

ausgabe: (27)07-09/2008 juli-september/2008  (blieb bis 12/2008 stehen)
 

text:
"Wir müssen dafür Sorge tragen, dass durch die Festsetzung staatlicher Zwangslöhne keine Arbeitsplätze vernichtet werden oder die Entstehung neuer Arbeitsplätze verhindert wird."
Norbert Röttgen. MdB. Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
(Interview, Frankfurter Rundschau. 26.04.2008.p.4.)


kommentar:
 

Der dröge satz(1) kann funkeln, wenn er mit unerwarteter perspektive in den blick genommen wird. Es gibt kein argument, dass für sich stände, und als teil eines systems hat jedes argument seine besondere einfärbung. In den diskussionen über die einführung eines mindestlohnes kann jeder debattenredner mit dem terminus: zwangslohn, aufmerksamkeit erzeugen, weil die frage offen ist, ob der bürger der Bundesrepublik Deutschland mit dem ertrag seiner arbeit die bürgerliche existenz bestreiten kann oder soll(2). Der streit geht um die alte frage nach dem gerechten lohn, den das individuum als ich einfordern kann und den die gesellschaft gewährleisten muss. Der streit um den mindestlohn indiziert, dass der staat seine verpflichtungen nicht mehr erfüllt.
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Norbert Röttgen täuscht sich selbst, wenn er den begriff: mindestlohn, mit dem begriff: zwangslohn, gleichsetzt und auf das polemische potential des terminus schielt. Als parlamentarier sollte Norbert Röttgen wissen, das ein durch gesetz festgelegter mindestlohn per definitionem kein zwangslohn sein kann. Dem staat ist in definierten grenzen erlaubt, dem gesetz auch mit zwang geltung zu verschaffen, aber der zwang, den der staat auszuüben legitimiert ist, ist nicht mit dem zwang gleichzusetzen, den der bürger gegen den mitbürger ausübt, wenn er seine verfügbaren machtmittel ausspielt. Der gesetzlich festgelegte mindestlohn ist für alle die unterste grenze, die von allen einzuhalten ist, die auf dem markt der arbeit arbeit anbieten und arbeit nachfragen. Das maass der freiheit ist für den nachfrager der arbeit, d.i. der arbeitsgeber, ebenso bestimmt wie für den anbieter der arbeit, d.i. der arbeitnehmer(3). Das reich der freiheit öffnet sich, wenn mit dem mindeslohn der zwang beseitigt ist, sich unter preis verkaufen zu müssen, oder die versuchung kein objekt hat, den schwächeren ausbeuten zu können. Der mindestlohn ist ein ordnungsmoment, ohne dass keine kapitalistische wirtschaftsordnung auf dauer funktionieren kann. Die kritiker des mindestlohns wenden ein, dass der mindestlohn als eingriff in das freie spiel des marktes die wettbewerbsfähigkeit der wirtschaft ruinieren müsse. Schlüssige beweise für diese behauptung wurden bisher nicht vorgelegt, aber zwei fakten sprechen gegen diese behauptung. Wenn die regeln des freien marktes für alle marktteilnehmer gelten würden, dann müsste der arbeitgeber die arbeit zu dem preis bei dem arbeitnehmer einkaufen, zu dem der arbeitnehmer seine arbeit an den arbeitgeber verkaufen will. Arbeitgeber wie arbeitnehmer verfolgen legitim ihr interesse; der eine will einen möglichst hohen profit erwirtschaften, der andere muss zumindest die kosten erlösen, die er für die arbeit aufbringen musste, um sich die mittel zu verschaffen, die er für die sicherung seiner existenz benötigt(4). Der arbeitgeber, der unter preis arbeit kaufen will, muss diese arbeit schon selbst tun, oder, in das politikergeschwätz von heute übersetzt, der arbeitgeber hat keinen arbeitsplatz anzubieten; denn der arbeitnehmer kann seine arbeit unter preis nicht verkaufen, weil er an den fünf fingern sich ausrechnen kann, wann er aus dem markt gekegelt sein wird - mangels kapital. Es ist eine gemeine behauptung, dass der freie markt nicht funktioniert, wenn der stärkere unter preis das durchsetzen kann, was der schwächere unter preis geben muss, eine einsicht, die auch dann ihre richtigkeit nicht verliert, wenn die ideologen des marktes weiter vom freien markt schwätzen, auf dem auch der stärkste auf dauer nicht sicher sein kann, dass er der stärkste bleiben wird. Das zweite faktum ist die beobachtung, dass ein erheblicher teil der gesellschaft in sozialen verhältnissen lebt, die den arbeitnehmer nötigen, in verträge einzuwilligen, die seine bürgerliche existenz faktisch nicht sichern können. Es ist zutreffend, wenn die arbeitsentgelte dieser verträge als zwangslöhne bezeichnet werden. Sollte Norbert Röttgen diese fälle gemeint haben, als er den terminus: zwangslöhne, in die debatte warf? - wahrlich, als politiker hätte er einmal die wahrheit gesagt; denn das ganze system der Schröder'schen agenda 2010 ist ein staatlich verordneter zwangslohn.
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Anmerkungen

(1)  der satz ist typisch für das, was dem mund eines politikers entströmt, der auch dann redet, wenn er nur plattitüden im angebot hat. Alles klingt so schön plausibel, wenn Norbert Röttgen, routiniert wie immer, antwortet, aber was ist der kern seiner aussage, an der der bürger sich sein urteil bilden könnte? Aus dem interview zitiere Ich diese passage: der FR-redakteur Thomas Kröter hatte auf die ergebnisse des koalitionsausschusses verwiesen und fragte: "Beim Betreuungsgeld versuchen Sie das auf Druck der CSU". Röttgen antwortet: "Das Parlament ist frei". - Das war's; bleibt noch die frage, welche aufgabe der parlamentarische geschäftsführer einer bundestagsfraktion dann noch legitim haben könnte, wenn alle abgeordneten des Bundestages nach ihrem gewissen handeln würden - tatsächlich.   <==//

(2)  das, was das bürgerliche existenzminimum in zahlen ausgedrückt sein soll, wird immer streitig sein, dennoch gibt es ein starkes gefühl für das, was als billige forderung angesehen wird. Der methodische vorzug unbestimmter rechtsbegriffe ist ihre flexibilität, mit der situationsabhängig ein rechtsfall interpretiert werden kann. Die erfahrung zeigt, dass mit keiner rechtsnorm, auf den konkreten fall angewendet, das gebot der gerechtigkeit zweifelfrei durchgesetzt werden kann. Aber es gibt eine gefühlte grenze, die, wenn die grenze der billigkeit überschritten wird, ein kristalisationskern öffentlicher proteste ist. Das war der fall, als die damen/herren parlamentarier der Berliner Republik den rentnern eine erhöhung ihrer renten zum 1.7.2008 um 1.1% zubilligten und fast zeitgleich sich selbst eine zweite diätenerhöhung innerhalb eines jahres, aufsummiert auf 16%, genehmigen wollten(a). Ist das ein ausgewogenenes handeln im öffentlichen interesse...?(b).
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(a) die zweite erhöhung der diäten wurde flugs abgeblasen, weil einige abgeordnete der SPD-fraktion kalte füsse gekriegt hatten, die den zeitpunkt galoppierend näherrücken sahen, an dem die umfragezahlen der partei unter 20% gefallen sein werden. Einige parteifreunde des herrn Röttgen aber motzten öffentlich gegen die feigheit ihrer vormänner, so wie die gleichen parteifreunde gemeckert hatten, als die rentenzahlung gegen das geltende gesetz von 0,5% auf 1,1% festgesetzt worden war.   <==//
(b) der vergleich der absoluten zahlen ist interessant. Die kommentatoren der presse nahmen die durchschnittsrente von ca.1000€ monatlich als basis. Bei 1,1% plus ergibt das für den rentner ein plus von rund 11,00€. Die basiszahl der abgeordnetendiäten ist rund 7200,00€. Für die damen/herren abgeordneten sind 16% plus rund 1150,00€ plus, oder der vergleich in einer anderen perspektive: die damen/herren abgeordneten wollten sich nur mal monatlich eine durchschnittsrente drauflegen. Wer hier von verhältnismässigkeit im handeln redet, der weiss entweder nicht, worüber er redet, oder er redet bewusst falsch.   <==//

(3)  die termini: arbeitgeber und arbeitnehmer, haben in der moderne ihre bedeutungen vertauscht. Aufgeklärt, wie die moderne sich immer gibt, werden die realen machtverhältnisse mit dem wohlklang sanfter wörter zugedeckt, machtverhältnisse, die, als noch von herren und knechten gesprochen wurde, klar waren. Der herr vergab keine arbeit, sondern eignete sich diese an; der knecht nahm keine arbeit an, sondern musste sie abliefern. Die regel war noch gültig, als  Hegel seine dialektik von herr und knecht entwickelt hatte, eine theorie, die in ihrer subtilität jeder realität enthoben war.   <==//

(4)  die frage, welchen wert die arbeit haben soll, kennt viele antworten, aber diese antworten haben bei aller variabilität im einzelnen eine grenze, die der wert der arbeit nicht unterschreiten kann; diese grenze ist das existenzminimum. Karl Marx wusste es noch, dass der produzent einer ware zumindest den wert in geld erhalten muss, den er benötigt, um seine arbeitskraft regenerieren zu können. Was darüber hinausgeht, das kann dem freien spiel der kräfte überlassen werden, weil die grenze des werts einer sache nach oben nicht definierbar ist. <==//

finis


stand: 08.12.31.  / eingestellt: 08.06.30.

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