TEXTSAMMLUNG
zitat des monats
ausgabe: (30)11-12/2010 november-dezember/2010 (blieb stehen bis 10/2011)

Text:

"Wer arm ist, hat keine Kontrolle über sein Leben".
Irene Khan (exchefin von Amnesty International)
(quelle: Der Spiegel, 27/2010,p.46, interview(*)).
Kommentar:
 
Es gibt sätze, deren aussagen in ihrer logik so zwingend sind, dass der rezipient den bestimmten satz nicht mehr beiseite legen kann. Der text des zitats erscheint in seiner struktur prima vista konturenlos und was gesagt ist, das wird als selbstverständlich abgelegt, secunda vista aber gewinnt der satz an kontur, wenn die worte mit sinn aufgeladen werden, interpretationen, für die nur der rezipient selbst verantwortlich sein kann; denn einerseits, scheinbar differenzlos, ist das eigene leben vertraut, andererseits ist die armut, wie selbstverständlich hingenommen, ein ubiquitäres phänomen. Aber das, was weit weg zu sein scheint, kann eine bedrohliche nähe gewinnen, und das nahe, das eigne leben, entgleitet, jeglicher eigenkontrolle entzogen.

Bei sich sein, das ist die bedingung, die real verfügbar sein muss, wenn das individuum als ich sein eignes leben gestalten soll. Aber das, was als eine scheinbar unendliche möglichkeit angelegt ist, das kann nur dann entwickelt werden, wenn das individuum, das ein ich sein will und dieses ich auch ist, sich selbst als herr seiner entscheidungen begreift. Die gestaltung des lebens, die jedem zur verfügung steht, der als individuum ein ich sein will, kann misslingen, auch dann, wenn dem individuum die besten bedingungen verfügbar sind, die es zu seiner bildung als ich benötigt, aber die gestaltung der eigenen existenz wird das individuum als ich verfehlen, wenn dem individuum als ich die tragende bedingung seiner bürgerlichen existenz entzogen ist, unabdingbar für das individuum als ich, das seine existenz zu einem geglückten leben formen will, sei es, dass dieses individuum, eingebunden in die natur, als lebewesen materiellen zwängen ausgesetzt ist, die, von der situation abhängig, den tieren und pflanzen gleich, günstig oder missgünstig sind, sei es, dass dieses individuum, das ein ich ist, zwängen ausgeliefert wird, die nur sein genosse setzen kann, der, ein individuum, selbst ein ich sein sollend, seinen genossen der weltdinge beraubt, die der andere als resultat seiner arbeit geschaffen hat. Die prozesse der beraubung sind ein wechselspiel zwischen der banalen gleichgültigkeit der natur einerseits und andererseits der unbändigen fantasie des individuums als ich und seines genossen, die weltdinge nach eigenen vorstellungen zu arrangieren. Die entworfenen projekte können glücken, die dokumente der historia belegen es, aber diese projekte müssen missglücken, wenn die verteilung des geschaffenen glücks unter denen ungleich verteilt ist, die dieses glück mit ihrer arbeit geschaffen haben. Die einsicht in die ungleiche verteilung der güter, ein faktum in der selbstgeschaffenen welt, ist das licht, das die weltdinge erhellt, die alle, die es betrifft, mit kalkulierendem interesse im zwielicht halten wollen. Die armut in der welt, der mangel bürgerlicher subsistenzmittel zur erhaltung der existenz in der gemeinsam geteilten welt, ist die kette, mit der der bann perpetuiert wird, der wirksam unterbindet, dass das individuum als ich und sein genosse bei sich selbst sein können, ein ich sein wollend, jeder für sich. Im wohl verstandenen eigeninteresse ist der glaube falsch, jeder müsse mehr haben als er durch seine arbeit schaffen kann und im gleichen austausch erlangen wird; dieser glaube ist auch dann falsch, wenn der eine, den anderen drückend, sich mächtig fühlt, dem genossen die früchte seiner arbeit rauben zu dürfen, den frechen anspruch mit juristischen formeln dürftigst kaschierend.
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(*) im interview erzählt frau Khan aus eigener anschauung, dass sie, die tochter gutsituierter bürger, und ihr spielkamerad, das kind des armen hausmädchens, gemeinsam in den behüteten tagen der kindheit aufgewachsen sind, bis sie im jugendlichen alter getrennt wurden; sie wurde nach Europa geschickt und konnte in Harvard studieren, ihr spielkamerad verschwand im slum einer indischen grosstadt. Armut und was damit zusammenhängt ist kein fall der gene, wie das kürzlich ein dummkopf wieder einmal behauptet hatte, armut ist immer das resultat ungleicher austauschbedingungen, für die kein gott verantwortlich ist, wohl aber die menschen, die die ungleichen austauschverhältnisse geschaffen haben und diese weiter zementieren.
finis

stand: 11.11.17
//eingestellt: 10.11.15.

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