TEXTSAMMLUNG
zitat des monats
ausgabe: (32)09-12/2012 september-dezember/2012/(blieb bis 04/2013 stehen)

Text:

"Ich zumindest bin stolz darauf."
Franz Müntefering
(SPD-vorsitzender, 2004-2005 und 2008-2009)
(quelle: Frankfurter Rundschau, 16.08.2012, p.3.)
Kommentar:
Es gibt zitate, die sind als passpartout gebrauchbar. Das wort des herrn Müntefering gehört in diese klasse. Es kann gedreht und gewendet werden, es passt immer, weil das, was das wort bedeuten soll, vom zitator dem zitat beigelegt ist, eine ausdeutung, die dann als das wort des zitierten gelten soll. Das phänomen ist bekannt, ein problem der sprache, das in der kritik der ideologien unter dem terminus: leerformel, diskutiert wird(02). Die leerformel, ein joker in jedem diskurs, ist doppeldeutig, der leere zum trotz, und das, was als vorteil erscheinen soll, das kann als nachteil sich ausweisen, jeden erfolg vernichtend.

Das zitat, für sich betrachtet, lässt offen, worauf herr Müntefering stolz ist. Der kontext des zitats(01) weist aber die richtung für die ausdeutungen, weil argumente geltend gemacht werden, die, wenn sie auf einer skala eingeordnet werden, zwischen den eckpunkten: sachangemessen und missbrauch, changieren. Hartz IV(03) ist das stichwort der frage und herr Müntefering antwortet, ganz politiker, mit einlassungen, die zum komplex der arbeitsmarktreformen 2003ff zwar gehören, aber mit den problemen von Hartz IV nur mittelbar verknüpft sind. Es war richtig gewesen, die organisation der arbeitsämter zu reformieren und die leistung der behörde zu optimieren; es war auch richtig gewesen, die klientel der sozialämter in den arbeitsprozess einzugliedern(04), aber war es auch notwendig gewesen, jeden, der nach ablauf der zeit aus der arbeitslosenversicherung herausgefallen war, auf Hartz IV zu setzen und unter restriktiven bedingungen die sozialhilfe zum normalfall zu machen? Die arbeitsmarktreform 2003ff, von herrn Schröder auf den weg gebracht, wurde in der grossen koalition mit frau Merkel von herrn Müntefering durchgesetzt und von der schwarzgelben koalition unter frau Merkel ungebremst weiter verfolgt. Der deutsche arbeitsmarkt ist gründlich umgekrempelt worden mit ergebnissen, die gegensätzlich nicht vereinbar sind. Die menschen, die die arbeit leisten, werden auf der einen seite entweder nach Hartz IV aussortiert oder auf dem massiv ausgeweiteten niedriglohnsektor ausgeplündert, eine schmale schicht in der gesellschaft profitiert auf der anderen seite von der pauperisierung der grossen menge(05). Wenn die signale keine irrlichter sind, dann dämmert jetzt auch konservativen politikern(06), dass die regierungen: Schröder und Merkel, und herr Müntefering war kein subalterner, ein soziales problem geschaffen haben, das einerseits die akkumulation von kapital beschleunigt, was einer dünnen schicht der gesellschaft zum nutzen ist, und das andererseits die arbeitenden menschen einer beschleunigt wachsenden verarmung ausliefert(07).

So oder so - eine leistung ist es, aber stolz auf welche leistung? - der zyniker hat damit kein problem(08).
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(01)

das zitat im kontext. Die entscheidende passage lautet, Ich zitiere:
"Frankfurter Rundschau: Viele Sozialdemokraten denken immer noch, dass Hartz IV ein großer Fehler war. Dabei könnte die Partei auch stolz auf diese Reform sein.
Müntefering: Ich zumindest bin stolz darauf. Agentur und Jobcenter wurden qualifiziert. Spezielle Programme aufgelegt. Die Zahl auch der Langzeitarbeitslosen ging deutlich zurück. Es gab auch Probleme, ja. Hinterher ist man klüger. Aber insgesamt war der Ansatz richtig: Er hat Menschen zurück in Arbeit gebracht, die vorher aussortiert waren."

Der bogen des kontextes kann weiter gefasst werden. Der rückgriff auf das ganze interview wäre dann geboten, wenn die kritische beurteilung der sogenannen Hartz-reformen nach 10 jahre der gegenstand meiner reflexion wäre. Mein interesse ist aber auf ein strukturproblem des zitats gerichtet. Die ausweitung des kontextes kann der klärung der struktur keine weiteres element hinzufügen.   <==//

(02)
der terminus: leerformel, ist ein modewort in der ideologiekritischen diskussion. Ernst Topitsch hatte dem kritischen diskurs einen dreh gegeben(*1), der dem problem der sprache nicht angemessen ist. Es ist das nämliche spiel, dem ideologischen widersacher im diskurs vorzuwerfen, er operiere mit leerformeln, um selbst, "die freiheit" beschwörend, mit den wörtern zu jonglieren, die nach bedarf gefüllt werden.
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(*1)
um 1960 war Ernst Topitsch einer der wortführer, der vor allem die "linken" im visier hatte, damals waren es die marxisten oder jene, die dafür gehalten wurden.   <==//
(03)
die arbeitsmarktreformen 2003ff, von der regierung: Schröder, mit der stillschweigenden duldung der CDU durchgesetzt, haben einen namen: Hartz I-IV. Der gegenstand der reformen: Hartz I-III, sind zum einen die restrukturierung der arbeitsverwaltung, zum anderen die deregulierung des arbeitsmarktes mit synchroner ausweitung der leiharbeit und des niedriglohnsektors(*1). Die zusammenlegung der klassischen sozialhilfe mit der arbeitslosenverwaltung und der streichung der arbeitslosenhilfe(*2) ist in Hartz IV geregelt. Das ziel der regelungen ist, die arbeitslosen, die aus der arbeitslosenversicherung herausgefallen sind, auf das niveau der sozialhilfe herabzustufen und die leistungen der klassischen sozialhilfe auf ein minimum zusammenzustreichen(*3). Die pauperisierung eines drittels der gesellschaft durchzusetzen(*4), war das ziel der regierung: Schröder, ein vorhaben, das auch zur zufriedenheit der finanzmärkte realisiert worden ist(*5).
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(*1)
so die erfindung der 400€-jobs, die, so sagte man damals, dem ziel gelten sollte, die "arbeit" von überflüssiger bürokratie zu entlasten. Die bürokratie wurde zwar nicht weniger, aber ein probates instrument des lohndumpings war geschaffen worden und es funktioniert noch heute.
(*2)
1974 war als puffer zwischen der arbeitslosenversicherung und der sozialhilfe die arbeitslosenhilfe geschaffen worden. Die zeiten der vollbeschäftigung waren vorbei und es war absehbar gewesen, dass die arbeitsuchenden in wachsender zahl aus der arbeitslosenversicherung heraus ins gesellschaftliche nichts fallen werden, bevor das netz der sozialhilfe auf niedrigem niveau greifen könne.
(*3)
der regelsatz nach Hartz IV, einschliesslich der zusatzzahlung für wohnung, liegt im durchschnitt noch unter dem satz, der als das steuerliche existenzminumum definiert ist, ein faktum, das die damen/herren: politiker, in der republik nicht aufregt, von einer beseitigung der lücke ist nicht die rede.
(*4) Richter,Ulrich: Reformen ja! - aber nicht diesen murks. In: www.ur-philosoph.de  //==>bibliographie //==>textsammlungen  //==>meinung des bürgers //==>(01)/01/04, (insbesondere die anmerkung: (3)).
(*5)
2005 war der herr Schröder vorzeitig aus dem verkehr gezogen worden, in der grossen koalition bis 2009 setzte herr Müntefering mit frau Merkel das programm der pauperisierung fort und zurück in der opposition kritisiert herr Müntefering zum fenster hinaus die politik der regierung: Merkel & Co., rollengkonform, ohne zu versäumen, seinen anteil an dieser politik herauszustellen.      <==//
(04)
das sozialhilferecht vor 2005 schloss aus, dass das arbeitsamt die klientel der sozialämter mit den mitteln der arbeitsmarktpolitik unterstützen konnte. Das war ein gesellschaftlicher misstand gewesen. Im historischen rückblick verwundert es aber, dass die reformen: Hartz I-IV, erforderlich gewesen sein sollten, diesen misstand zu beseitigen, es verwundert aber nicht, dass mit der reform: Hartz IV, neue misstände geschaffen wurden.    <==//
(05)
im gesellschaftlichen diskurs sind die stimmen lauter und zahlreicher geworden, die warnen, dass nicht nur die gesellschaftlichen unterschichten von armut bedroht seien, sondern zunehmend auch der mittelstand. Das faktum der wachsenden zahl von vollzeitbeschäftigten, die mit einem job nicht mehr die bürgerliche existenz sichern können und genötigt sind, leistungen nach Hartz IV in anspruch zu nehmen, ist ein indiz für diesen prozess der pauperisierung, der reziprok die folge wachsenden reichtums bei wenigen ist.    <==//
(06)
aktuell hat sich die sozialministerin: frau von der Leyen, mit der forderung nach einem zuschuss für kleine renten ins gespräch gebracht(*1). Den grundstein für die rentenberechnungen heute hatte die regierung: Schröder, mit der agenda 2010(*2) gelegt. Mit der politisch gewollten ausweitung des niedriglohnsektors war bereits 2003 kalkulierbar gewesen, dass künftig die durchschnittsrenten nicht mehr das bürgerliche existenzminimum sichern werden. Herr Schröder und Co., auch herr Müntefering, hatten das 2003ff so gewollt, die schweigende zustimmung der Union eingeschlosen.
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(*1)
das echo ist herr Gabriel von der SPD, dem vergleichbares eingefallen ist. Warum erst heute?
(*2)
die arbeitsmarktreformen 2003ff sind vor allem unter dem terminus: agenda 2010, in der öffentlichkeit diskutiert worden.     <==//
(07)
als beweis für diese tendenz wird immer wieder die statistik der vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland zitiert. Grob skizziert ist der tenor der statistik: das oberste zehntel der gesellschaft verfügt über 60% des vermögens in geld, die untere hälfte, also 50%, über ein vermögen, das statistisch mit null beziffert ist. Der verbleibende rest von 40% teilt sich den rest des vermögens von weniger als 40%, dieser rest spiegelbildlich verteilt zur gesamtverteilung in der gesellschaft. Diese statistik, betrachtet in der folge der zeit, belegt die sich vertiefende spaltung der gesellschaft in die habenden und die nichthabenden. Das ist die logik der zahlen, aber die gründe für die krass ungleiche verteilung des gemeinsamen reichtums sind in der ökonomie der gesellschaft verortet.    <==//
(08)
zusatz: unter den sozialdemokraten der tradition ist der zyniker  nicht der dominierende typus, aber in der SPD heute haben diese typen im dunstkreis des alphatiers: der herr Schröder, der "genosse der bosse", das sagen. Der volksmund sagt's: ist der ruf erst ruiniert, dann lebt's sich auch ungeniert. Man kloppt flotte sprüche, die auf den tag abgestimmt sind - passpartout.   <==//
finis
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stand: 13.04.27.
eingestellt: 12.09.22.
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