TEXTSAMMLUNG
zitat des monats
ausgabe: (41)01/21 //01-03/2021 januar-märz. (blieb
stehen bis 11/2021)
Text:
"Ich träume, einen essay zu schreiben,
zusammengestellt nur aus zitaten."
Walter Benjamin(1892-1940)(a)
Kommentar:
Das zitat ist in seiner funktion ein bruchstück, das
aus einem ganzen herausgeschlagen worden ist und als teil in
einem anderen ganzen eingefügt wird. Als fragment ist das zitat,
al gusto ausgewählt(b),
einem anderen zweck dienlich gemacht, einem zweck, der
einerseits dem horizont seiner herkunft(c) nicht entzogen werden kann, der
andererseits einen neuen horizont öffnet(d). Die doppelte kodierung des zitats gibt
dem fragment eine gewaltige kraft, die zerstört oder aufbaut.
Es ist konvention, mit zitaten sparsam umzugehen(e). Als maxime steht der brauch in einem
gegensatz zu der absicht, einen neuen text allein aus zitaten
komponieren zu wollen(f).
Abgesehen vom spiel mit den möglichkeiten ist der plan nicht
unvernünftig, weil, wenn die welt nüchtern betrachtet wird,
alles bestehende ein compositum ist aus vergangenem, aber, alles
kann das nicht sein. Wer das vergangene alte wieder
zusammenfügt, der schöpft aus seinem individuellen impuls und
fügt dem neu geschaffenen ein momentum hinzu, das zwar im
horizont der facta der vergangenheit situiert ist, aber als
projektion in die zukunft im moment der gelebten gegenwart
realisiert wird. Ich vermute, dass Walter Benjamin mit seinem
traum, nicht verwirklicht, diesem gedanken flügel verschaffen
wollte.
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(a)
das ist ein fiktives zitat, das Ich auf der basis
einer gelesenen bemerkung formuliert habe, deren quelle Ich
nicht mehr benennen kann. Th.W.Adorno(01) hatte geschrieben,
dass Walter Benjamin einmal den gedanken geäussert habe, ihm
schwebe ein essay vor, der nur aus zitaten komponiert sei.
Das, was meine aufmerksamkeit angeregt hatte, das war die
implizite idee, einen neuen text aus altem material
herzustellen, ein unternehmen, das den menschen immer vertraut
gewesen ist(02). An die alte bemerkung von Benjamin/Adorno(03)
wurde Ich erinnert, als Ich, das ist mein Beethovenjahr, ein
merkwürdiges stück im rundfunk gehört hatte - es war eindeutig
Beethoven, aber es waren nur zusammengewürfelte schnippsel der
highlights, komponiert zu einem neuen musikstück(04). Über die
qualität des produkts kann man geteilter meinung sein, der
versuch aber war für mich anregend(05).
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(01) es kann auch Gershom Scholem gewesen
sein.
(02)
viele antike stücke sind heute nur deshalb noch
bekannt, weil das material der alten bauten in einem neuen
bau wiederverwendet worden war, das in dieser anpassung die
zeit bis heute überdauert hat.
(03)
das phänomen des doppelzitats ist bekannt. Etwas
gehörtes/gelesenes wird in anderem kontext weiter erzählt
und damit notwendig verändert. Die traditionalen formen des
erzählens einer geschichte können durchaus plausibel in den
kontext des zitats eingereiht werden, nämlich als ganze
geschichte(=zitat) in seiner neu erstandenen wiederholung.
(04)
die musikalische form: variation, schied aus,
obgleich die variation in den kontext: zitat, gehört - das
fortspinnen eines anderen gedankens.
(05)
Pierre Henry: Presto, 6. Satz. aus: "La Dixième
Symphonie - Hommage à Beethoven". (WDR3/Klassik_Forum,
27.11.2020) (a)<==//
(b)
al gusto, immer in der perspektive des zitators,
nicht des zitierten.
(b)<==//
(c)
das problem des zwecks, die aussage, zitiert oder
nicht, bleibt auch dann bestehen, wenn der autor des zitierten
textes nicht genannt/bekannt ist, eingeschlossen die umstände,
in denen das fragment als teil im ganzen eingeordnet
war. (c)<==//
(d)
das zitat, eingeordnet in einem anderen kontext,
schafft eine neue situation. In dieser differenz entfaltet das
zitat seine kritisches potential, entweder ein anderes
argument verstärkend oder schwächend. (d)<==//
(e)
es gilt, dass das zitatenkompilat kein ausweis von
originalität im denken ist, aber, brauchbar kann diese
ansammlung von fragmenten sein, weil sie als bequeme
datensammlung ausbeutbar ist, dennoch ist der nutzen dieser
datenbank nur eingeschränkt wirksam. Das grundproblem des
zitierens bleibt unberührt. Allein im vergleich mit dem ganzen
wird die bedeutung eines fragments erschlossen und diese
prüfung, angemessen ausgeführt, ist im horizont des originals
zu führen(01). Pragmatisch geurteilt ist es vorteilhafter,
gleich zur quelle zu greifen, und das zitat im kontext zu
beurteilen, ohne das eigene urteil durch die (vor)meinung
eines anderen zu trüben.
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(01)
der aspekt: plagiat, sollte nicht übergangen
werden, aber, sich mit fremden federn zu schmücken, ist ein
anderes problem. Das zitat ist ein mittel zum zweck, und die
verfolgten interessen können hier ausgeblendet bleiben - vom
(versuchten) betrug rede Ich nicht. (e)<==//
(f)
das zitat ist ein mittel zum zweck, nicht der zweck
selbst. Im horizont der konventionen ist die idee nicht
zwingend, einen neuen text nur aus zitaten komponieren zu
wollen, aber, und dieser einwand sollte beachtet werden,
diesen konventionen steht die überlegung entgegen, dass auch
das schönste gebäude am platz nur aus einzelnen steinen
zusammengefügt ist. Der text, gefügt aus wörtern und zeichen,
ist ein compositum aus teilen, im zitat die verknüpfung von
teil und ganzem de facto spiegelnd. (f)<==//
finis
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stand: 21.12.01.
eingestellt: 21.01.01.
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