TEXTSAMMLUNG
DOKUMENTE

dokument001:
 

Redemanuskript:
Mitgliederversammlung des SPD-Unterbezirks Münster,
donnerstag, 23.06.2005, 19.00uhr

vorbemerkung:

den redetext hatte Ich für die versammlung vorbereitet, auf der der kandidat der SPD für den Bundestagswahlkreis Münster gewählt wurde. Auf grund der beschränkten redezeit gemäss geschäftsordnung (3 minuten) hatte Ich nur einen kleinen teil vortragen können. Mein eindruck von der versammlung war gewesen, dass die versammelten SPD-mitglieder, nicht einmal 10% der mitgliedschaft, eine kritisches wort zur lage der partei nicht hören wollten; vielleicht tun sie es wieder, wenn die bundestagswahl am 18.09.2005 mit dem prognostizierten ergebnis gelaufen sein wird


Text:
 

Genossinnen und genossen,

diese anrede - eine alte anrede - ist unter sozialdemokraten eine gute anrede. Ich nehme sie mit bedacht auf, weil Ich nicht mehr willens bin, die zeichen zu ignorieren, dass einige mitglieder der SPD sich als herren missverstehen.

Mit erstaunen habe Ich zur kenntnis genommen, dass die sozialdemokraten in Münster zusammengerufen worden sind, um in einer mitgliederversammlung den kandidaten für den bundestagswahlkreis Münster zu wählen. In Berlin amtiert der bundestag mit einem mandat, das bis zum herbst 2006 befristet ist und die rot-grüne koalition hat im parlament eine stabile mehrheit. Aus alter erfahrung ist mir geläufig, dass ein wahlkampf sehr viel vorbereitungszeit erfordert, und die vorbereitungen für die wahl beginnen gewohnheitsmässig vor den gesetzlich fixierten terminen. Aber was nach der schliessung der wahllokale in Nordrhein-Westfalen am 22.mai in Berlin von herrn Schröder inszeniert worden ist, das ist in meinem urteil der versuch eines staatsstreichs, und, das füge Ich hinzu, um die szene vollständig zu beschreiben, die vereinigte christliche und neoliberale oppositionskoalition der herrschaften Merkel und Westerwelle beteiligt sich an dem bösen spiel - klammheimlich.

Genossinnen und genossen,
die peinlichst genaue einhaltung der vorschriften der verfassung ist ein essential der verfassungstreue, und die sozialdemokraten waren immer gut beraten gewesen, davon nicht abzuweichen. Nach den letzten informationen soll am 1.juli im bundestag über die vertrauensfrage des bundeskanzlers Schröder abgestimmt werden; das offen erklärte ziel ist, ein negatives resultat zu produzieren, um so den weg freizubekommen, dass der bundespräsident auf vorschlag des bundeskanzlers den bundestag auflöst und neuwahlen zum 18.september ausschreibt. Das verfahren der vertrauenfrage, Art.68 des grundgesetzes, ist bisher zweimal angewendet worden. 1972 hatte Willy Brandt diesen weg beschritten, weil die sozialliberale koalition nach dem parteiwechsel mehrerer abgeordneter im bundestag nicht mehr die mehrheit hatte, die opposition aber nicht in der lage gewesen war, die koalition durch ein misstrauensvotum abzulösen. Mit einem gewonnenen misstrauensvotum und einer soliden mehrheit ausgestattet war herr Kohl im oktober 1982 zum bundeskanzler gewählt worden. In einem abgekarteten manöver nötigte herr Kohl im januar 1983 den bundespräsidenten Carstens, den bundestag aufzulösen, um, wie man es damals kolportierte, in einer neuwahl vom wähler unmittelbar legitimiert zu werden. Das bundesverfassungsgericht hat dieses böse spiel gutgeheissen, weil es zwischen dem staatsstreich des herrn Kohl und der beschädigung des verfassungsorgans: bundespräsident, das geringere übel gewählt hatte; es liess, um das amt des bundespräsidenten vor schaden zu bewahren, die tatsachen passieren, die herr Kohl mit seinem coup geschaffenen hatte. Mit anderen akteuren und anderen zielsetzungen soll das verfassungswidrige spiel wiederholt werden. Die wahlniederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen, die 10. verlorene landtagswahl in folge, ist das letzte signal, dass herr Schröder mit seiner als reform camouflierten Agenda 2010 gescheitert ist; der staatsstreich ist sein letzter versuch, sich einen abgang zu verschaffen, der respektabel sein soll, aber nur eine farce ist.

Genossinnen und genossen,
Ich bin beim kern meiner intervention.

Es ist die begrenzte redezeit, dass Ich meine kritik der sogenanten Agenda 2010 nicht en detail entfalten kann; Ich verweise daher die interessierten auf meine homepage, die inzwischen mit der 21.ausgabe öffentlich zugänglich ist.
(die adresse: www.ur-philosoph.de -philosoph mit ph für die rechtschreibreformgeschädigten und alles kleingeschrieben-).
Ich beschränke mich auf eine knappe bewertung der Schröder'schen reform und benenne ihre logik mit zwei details.

Genossinnen und genossen,
die Agenda 2010 ist das programm der pauperisierung eines drittels der Gesellschaft; sie ist einerseits ein hohn auf die guten traditionen der sozialdemokraten, und sie ist andererseits der kotau Schröders und seiner entourage vor dem zeitgeist, dem neoliberalismus, der den shareholdervalue zum gott hat, und dem seine gläubigen, die anleger und die manager, groosse oder kleine, ihr hosianna entgegenschreien, wenn als kostenfaktor 10000 arbeitsplätze wegfallen und der DAX ein neues jahreshoch erreicht. Aber genug der polemik, die vielleicht die beschädigte seele streicheln kann, aber der ökonomischen vernunft keine neue erkenntnis hinzufügt.

Es war eine gute tradition der sozialdemokraten gewesen, für akzeptable arbeitsbedingungen zu kämpfen, die für die menschen das fundament ihrer bürgerlichen existenz sind. Dem herrn Clement war es vorbehalten gewesen, die schnapsidee eines bürokraten aufzugreifen, und es war der herr minister gewesen, der auf dem desaströsen arbeitsmarkt die 1-euro-jobs als frohe botschaft seiner neoliberalen leere präsentierte. Folge Ich den berichten der presse, dann sind von den im anfang verheissenen 500000 1-euro-jobs bisher ca. 50000 billigstjobs besetzt worden, auf denen die ALG2-kunden, das ist agenturjargon, auf immer im sozialgefängnis Hartz IV weggesperrt werden. Was die gewerkschaften kritisiert hatten und was den wirtschaftsverbänden nicht verborgen geblieben war, das hat der superminister Clement ins werk gesetzt, es ist die beschleunigte erosion des arbeitsmarktes, auf dem die arbeitsplätze vernichtet werden, die bisher das sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland getragen hatten. Was bleibt, das ist die wüste eines staatlichen niedrigstlohnsektors, dessen einziger zweck zu sein scheint, die arbeitslosenstatistik schönzureden.

Es war eine gute tradition der sozialdemokraten gewesen, die teilhabe aller am gesellschaftlichen reichtum zu sichern und auszubauen. Es war nicht der zufall eines datums, dass am 1.januar 2005 herr Schröder mit Hartz IV den arbeitslosen finanzielle einschnitte von 25 bis 100% zumutete, die viele in akute wirtschaftliche not gebracht haben; am selben 1.januar 2005 war eine Schröder'sche steuerreform wirksam geworden, die mit der absenkung des spitzensteuersatzes von 2% den gebrüdern Albrecht eine steuerersparnis von rechnerisch 13 millionen Euro bescherte. Es ist neoliberaler dummschwatz, wenn ihre wortführer behaupten, dass der moderne sozialstaat unter den bedingungen des globalen wirtschaftens nicht mehr bezahlbar sei. Für jeden, der über den tellerrand seiner privaten interessen hinausblicken kann, ist es ein faktum, dass der sozialstaat durch eine steuerpolitik zerstört worden ist, die das kapital entlastet und die arbeit belastet. Diese politik hat namen; Ich nenne die dame Thatcher, die herren Reagan und Kohl, herr Schröder ist ihr williger erbe.

Genossinen und genossen,
wenn herr Schröder erklärt, dass er "ohne abstriche" seine reformpolitik fortsetzen wolle, dann erklärt er die wahl am 18.september schon jetzt für verloren. In meinem urteil bin Ich eindeutig. Noch ist die Bundesrepublik Deutschland eine republik und eine soziale demokratie, aber das zu erhalten, was geschaffen worden war, ist herr Schröder nicht fähig, und einen gedanken, wie Deutschland und Europa in einer generation aussehen könnten, hatte er niemals geträumt. Wäre er ein herr mit anstand, dann wäre er am abend der verlorenen wahl in Nordrhein-Westfalen von seinem mandat zurückgetreten, um den weg freizumachen für realistische reformen, die reformen zu einer friedlicheren gesellschaft sein müssen.

Genossinnen und genossen,
die wahl am 18.september ist für die sozialdemokraten mit Schröder verloren; für die SPD wird die wahl mit einer sozialdemokratin oder einem sozialdemokraten an der spitze sehr wahrscheinlich auch verloren gehen, weil das die quittung des wahlvolks für unsägliche Schröderjahre ist. Aber der verlust der gestaltenden macht kann die chance eröffnen, dass die sozialdemokraten sich wieder auf ihre guten traditionen besinnen. Ich denke, dass wir die chance nutzen und heute damit beginnen, neues zu schaffen, ohne das bewährte alte zu verleugnen.

Es fehlt noch ein wort zum kandidaten des wahlkreises Münster; Ich beschränke mich auf die bemerkung, dass Herr Strässer genau weiss, warum Ich ihm das mandat nicht wieder anvertrauen werde. Die objektiven gründe habe Ich in meiner kritik der schröderschen regierungspolitik deutlich gemacht, die persönlichen gründe erörtere Ich nicht auf der öffentlichen bühne.

Beifall, genossinnen und genossen, wäre für meine kritik eine fatale fehleinschätzung der situation; Ich bedanke mich für euer schweigen.

copyright:
Dr.Ulrich Richter. Zitat nur in der originalen orthographie erlaubt.


stand: 08.12.31. //eingestellt: 05.08.01.

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