ausgabe: 01/02 januar-märz2002
text:
Bitte, seien Sie doch vernünftig!
Marcel Reich-Ranicki,
in einer sendung des literarischen quartetts.
(zitiert nach
einem zusammenschnitt/ programmhinweis/ WDR5/ Morgenecho/ 01.12.14.)
kommentar:
Zugegeben, die quellenangabe des zitats ist vage, aber Ich denke, dass der beleg für diesen ausruf, eine floskel des täglichen lebens, hinreichend ist. Der programmhinweis hatte eine kurze szene aus einer der sendungen des literarische quartetts zitiert (Ich gestehe, dass Ich diese bekannte, nun eingestellten sendereihe nie gesehen habe; Ich habe übrigens auch nicht das gefühl, etwas versäumt zu haben). Die szene dürfte sich so abgespielt haben: die vier akteure mit Reich-Ranicki als primgeiger hatten etwas behauptet, einem zuhörer im senderaum missfiel das. Es folgte ein kurzer wortwechsel zwischen Reich-Ranicki und seinem widersprecher, der nichts einsehen wollte. Herrisch beendete Reich-Ranicki den streit mit dem zitat: bitte, seien Sie doch vernünftig! - bitte, wer soll hier vernünftig sein? und noch eine frage: hat der sprecher mit der herrischen geste, der den zweifelnde abkanzelt, immer die vernunft auf seiner seite, quasi qua amtes, und der zugerechtgewiesene die unvernunft? So simpel ist die rollenverteilung nicht, auch wenn Ich konzediere, dass eine rollenverteilung auf zeit, die immer auch eine verteilung der macht auf zeit widerspiegelt, klare verhältnisse zwischen den beteiligten schafft.
Man kann sich nun darüber streiten, was als vernünftig gelten soll. In der tradition hatte es da immer verschiedene meinungen gegeben, die in einem punkt eine fatale übereinstimmung aufweisen: die unvernunft ist immer beim anderen. Selbst ist man ja immer so vernünftig....
Ob es so etwas wie die vernunft gibt,
weiss Ich nicht. Das ontologische argument, das dies mit dem entschuldigenden
hinweis behauptet, dass seine wahrheit erst gelichtet werden müsse,
ist für mich nicht akzeptabel, weil die entscheidung darüber,
was als vernunft gelten soll, von einer vorstellung abhängig gemacht
wird, die in ihren bestimmenden umrissen erst noch gebildet werden soll
- ein wenig verlässlicher maasstab für eine frage, die in der
zeit immer im gelebten moment entschieden werden muss. Ich denke, dass
die überlegung des relationalen arguments weiterträgt, wenn die
vernunft als ein konsens gedeutet wird, der zwischen denen, die es betrifft,
bestehen muss, damit eine relation zwischen dem ich und seinem anderen
von beiden als befriedigend erlebt werden kann. Der konsens ist das interesse
der beiden individuen als ich eine befriedigende relation zu haben. Das
ist aber nur erreichbar, wenn das ich seinen anderen als das anerkennt,
was er ist: ebenso ein ich zu sein wie das ich sich selbst als ich erfährt.
Diese wechselseitige anerkennung schliesst aus, dass der eine sich selbstgefällig
als der vernünftige missversteht und die ganze beklagenswerte unvernunft
der welt beim anderen ablädt - eine utopie, die für die praxis
des gelebten lebens untauglich ist? Ich denke: nein! Diese utopie wird
dann real sein, wenn im diskurs strikt zwischen den sach- und den wertungsfragen
unterschieden wird, die in analytischer absicht getrennt erörtert,
in der lebenspraxis aber als synthese realisiert werden. Sachfragen sind
eindeutig nach richtig und falsch entscheidbar, wertungsfragen sind, weil
sie der autonomie des ich unterliegen, nur im wechselseitigen anerkennen
entscheidbar. Wer in seiner rede auf die herrische geste nicht verzichten
will signalisiert dem anderen, dass er ihm die anerkennung nicht gewähren
will. Er fällt damit relationslos auf sich zurück.
stand: 02.03.25.
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