BIBLIOGRAPHIE
TEXTSAMMLUNG

010:methode:

Die philosopheme Arthur Schopenhauers und Theodor W.Adornos als momente meiner selbsterfahrung.
(1988/2003)
*abs.:001-023
Int.Schopenhauerkongress, Hamburg, 24.-27.05.1988
vortrag, 25.05.1988, erstveröffentlichung

stichworte:abstract:
text:                -->anmerkungen zum text:

anhang:           -->editorische bemerkungen
                            -->anmerkungen zur publikation
(kein lokales register)


*stichworte:
 

anthropofugales denken
individuum (als subjekt/als ich)
methode
natur/NATUR
welt

Adorno,Theodor_W.
Horstmann,Ulrich
Kant,Immanuel
Schopenhauer,Arthur
<--//


*abstract:
 

im 1.teil des 1988 in Hamburg gehaltenen vortrags skizziere Ich knapp meine methode des philosophierens. Im 2. teil stelle Ich den bezug einiger kernaussagen Schopenhauers und Adornos zu meinem radikal individualistischen ansatz her. Es sind systematische gründe, die mich veranlassen, Schopenhauers und Adornos versuche der rettung des individuums als gescheitert zu kritisieren. Sowohl in der willensphilosophie Schopenhauers als auch in der negativen dialektik Adornos verschwindet das ich als subjekt, um dessen rettung es der intention nach bei Schopenhauer wie bei Adorno gehen sollte. Der 3.teil nimmt ein motiv auf, das 1988 aktuell gewesen war und im wandel der philosophischen moden wieder untergegangen ist: das anthropofugale denken.  <--//


*text
 

Die philosopheme Arthur Schopenhauers und Theodor W.Adornos als momente meiner selbsterfahrung.
 

I.  zur methode meines philosophierens

Für mich als individuum und subjekt meiner selbst sind die philosopheme Schopenhauers und Adornos nur momente meiner selbsterfahrung. Sie fungieren wie jedes andere philosophem auch als das mir andere, an dem und durch das vermittelt Ich(a) mich, ein individuum der NATUR(b), als ein subjekt meiner selbst, also als ein humanes wesen, als mensch erfahren und bilden kann. (*abs.:001*)

Die prämisse meines philosophierens ist die kompromisslose
zurückweisung einer bestimmten art des metaphysischen fragens. Dieses denken manifestiert sich in der frage nach dem wesen der dinge, säkular formuliert in der frage nach dem sein, theologisch in der frage nach gott. Diese fragen sind für mich nicht beantwortbar; Ich(a) muss sie daher als sinnlos qualifizieren, auch wenn es wichtige psychologische motive gibt, die jeden von uns zwingen, diese fragen immer wieder erneut zu stellen und zu beantworten. (*abs.:002*)

Die fragen nach dem wesen der dinge, nach dem sein oder nach gott implizieren die frage nach der wahrheit, deren antwort allein auf das ziel ausgerichtet ist, für das ganze weltgebäude, den kosmos, den ersten oder letzten grund zu benennen. Diese antwort ist für mich weder logisch möglich noch faktisch durchführbar. Eine antwort ist logisch unmöglich, weil alle argumentketten dem logischen modell der induktion(c) folgen. Das resultat jedes versuchs kann niemals der letzte oder erste grund sein, sondern bestenfalls der vorletzte oder zweite. Jeder gottesbeweis einschliesslich aller seiner säkularen varianten kann daher seinen zweck nicht erreichen. Allein den glaubensbeweis nehme Ich(a) davon aus, aber dieser folgt nicht logischen gesetzen, sondern psychologischen motiven. Faktisch ist die antwort aus diesem grund undurchführbar: immer haben die menschen, zumeist in überschaubaren gruppenbildungen, ihre wahrheiten formuliert und in erbitterten konkurrenzkämpfen mit anderen gruppen versucht, diese als absolut verbindlich durchzusetzen, immer mit zeitlich begrenzten erfolgen. Für mich ist das historische faktum mit dem behaupteten prinzip von der einen wahrheit nicht vereinbar. (*abs.:003*)

Diese Überlegungen veranlassen mich zu der behauptung, dass es den "originären" Schopenhauer oder den "originären" Adorno nicht gibt. Für mich ist es unsinnig, von der einen wahren philosophie Schopenhauers, Adornos oder eines anderen philosophen zu sprechen. Was mir allein vorliegt, das sind interpretationen bestimmter philosopheme, rekonstruktionen sagt man im jargon, die nur in einem punkt übereinstimmen, dass sie mit den namen Schopenhauers, Adornos und anderer identifiziert werden. Von deren werken habe Ich(a) objektiv nur die philologisch gesicherte textgestalt zur hand. Das sind zeichen, überaus komplexe gebilde, die Ich(a) im kontext meiner selbsterfahrung ausdeute, und die Ich(a) in dieser ausgedeuteten gestalt als wegmarken und orientierungspunkte benutze, um mich an ihnen und durch sie vermittelt als subjekt meiner selbst zu erfahren und zu bilden. (*abs.:004*)

Argumentationslogisch scheint ein zirkelschluss vorzuliegen, in der sache ist es jedoch nur ein in sich zurück laufendes argument, für das Ich(a) weder einen anfangs- noch einen zielpunkt subjektunabhängig benennen kann. Diese argumentationsfigur schliesst - so scheint es - die möglichkeit einer intersubjektiven verständigung der individuen untereinander aus. Dem steht aber die überlegung entgegen, dass das unstreitige faktum der kommunikation der individuen untereinander die annahme einer identischen ebene zur voraussetzung hat, auf der die individuen miteinander agieren. Diese ebene kann unabhängig von den jeweils miteinander agierenden individuen vorausgesetzt werden, und zwar aus zwei gründen. Erstens ist jedes individuum ein teil der natur(d). Folglich verfügen sie über organe, die zwischen ihnen den austausch und transfer von einsinnigen zeichen ermöglichen. Zweitens sind diese zeichen in den konkreten austausch- und transfersystemen in ihrer bedeutung festgelegt. Ich beschränke mich auf den hinweis, dass die instinktsysteme der tiere und die kultursysteme der menschen diese funktion erfüllen. (*abs.:005*)

Die philosopheme, die Ich(a) mit bestimmten namen identifiziere, sind also, analytisch betrachtet, ein produkt aus transsubjektiver objektivität als bedingung für die kommunikation mit anderen (textgestalt und approbierter bedeutungsinhalt) und subjektiver interpretation als realität meiner existenz. Nur in dieser form ist für mich eine auseinandersetzung mit der philosophie eines Schopenhauer, eines Adorno und aller anderen als teil meiner lebenswirklichkeit möglich. Sowohl als ein ganzes als auch in ausgewählten teilen kann das werk Schopenhauers und Adornos gegenstand meiner selbsterfahrung sein. Aus gründen der reduktion der stoffmassen und der zeitlichen enge des vortrags wende Ich(a) einen kunstgriff an und fingiere, dass mir aus dem werk Schopenhauers und Adornos nur die folgenden fragmente überliefert sind: (*abs.:006*)
 

Schopenhauer:
 

- Die Welt ist meine Vorstellung: die Welt ist nur als Vorstellung da, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welcher der Mensch selbst ist.(1)(2)
- Dem als Individuum erscheinenden Subjekt des Erkennens ist das Wort des Rätsels gegeben: Wille.(3)
- Alle Vorstellung, alles Objekt ist Erscheinung. Ding an sich aber ist allein der Wille.(4)
- Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.(5) (*abs.:007*)


Adorno:
 

- Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung.(6)
- Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät umso tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn europäischer Zivilisation verlaufen.(7)
- Aufklärung ist die radikal gewordene mythische Angst.(8)
- Denken heißt identifizieren.(9)
- Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.(10)
- An der Philosophie ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugehen.(11)
- Nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken, Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot.(12) (*abs.:008*)


Indem Ich(a) diese philosopheme zur kenntnis nehme, ordne Ich(a) sie den anderen gegenständen meiner welt zu. Weniges kann Ich(a) davon unmittelbar verwenden, um mein weltgebäude zu festigen; manches kann Ich(a) erst nach einer angemessenen bearbeitung in das bestehende einfügen; vieles ist für meinen bauplan unbrauchbar, Ich(a) scheide es aus und vergesse es; und dann gibt es noch objekte, die meiner vereinnahme widergängig(e) sich entziehen und zu einem dauernden stachel für meine weiteren anstrengungen werden. (*abs.:009*)
 

II.  überlegungen zu ausgewählten philosophemen von Schopenhauer und
 Adorno

Das entscheidende philosophem für mich ist die "vorstellung meiner welt". In diesem hat Schopenhauer die frage des individuums nach seinem selbst fokussiert. Was Ich(a) bin, das bin Ich(a) nur in der vorstellung, die Ich(a) von meiner welt habe. Alles, was über diese vorstellung hinausgeht, sei's in spekulativer absicht, sei's tatsächlich, ist für mich nichts. Neben den sinnesorganen und meinem bewusstsein von mir selbst - das ist mein anteil an der NATUR(f) - verfüge ich über kein weiteres organ, mit dem Ich(a) jene gegenstände erfassen und erkennen könnte, die die theologen, ontologen und sonstigen individuen des publizistisch-philosophischen showgeschäfts mit den termini: gott, oder: sein, oder einem sonstigen mana zu markieren pflegen(g). (*abs.:010*)

Was Ich(a) bin, das bin Ich(a) allein durch mich selbst, indem Ich(a) tätig mir meine welt vorstelle. Der kern dieser these sind zwei momente, die unmittelbar aufeinander bezogen sind. Ich lege sie hier nur in analytischer absicht auseinander. (*abs.:011*)

Das erste moment ist die welt, die mir als das andere gegenübersteht. Diese welt ist - so meine these(h) - als phänomen für mich zweigeteilt, deren bereiche eindeutig voneinander unterscheidbar sind. Der erste bereich ist die physische welt, traditionell mit dem zeichen materie gekennzeichnet. Dieser bereich wird als vom individuum unabhängig gedacht. Was diese physische welt, im jargon, ihrem wesen nach ist, weiss Ich(a) nicht. Das ist ein postulat meines philosophierens. Mir als individuum und subjekt meiner selbst ist es unmöglich, über diese vorstellung irgendeine aussage zu machen, die über ihre funktion, ein postulat meines philosophierens zu sein, hinausgeht. Um die notwendige funktionsstelle in meinem begriff von welt markieren zu können, verwende Ich(a) für diesen bereich das zeichen: NATUR(i). Der zweite bereich sind meine vorstellungen, die Ich(a) von dem ersten habe. Diese vorstellungen fixiere Ich(a) mittels der begriffe in mythen und theorien, und mit diesen instrumenten mache Ich(a) mir die einzelnen phänomene der NATUR(f) erklärbar, um so, als vollzug meines lebens, die NATUR(f) meinen zwecken zu unterwerfen. (*abs.:012*)

Das zweite moment bin Ich(a) selbst. Als individuum bin Ich(a) einerseits teil der NATUR(f), andererseits lebe Ich(a) als subjekt meiner selbst in gemeinschaften mit individuen zusammen, die meinesgleichen sind. Als individuum ist mir ein merkmal(j) zu eigen, durch das vermittelt Ich(a) mich zuerst als ein individuum erfahren und dann als subjekt meiner selbst bilden kann. Schopenhauer bezeichnet dieses merkmal(k) als "wille"; Ich(a) verwende dafür den terminus: individueller impuls(k). Was dieses merkmal: individueller impuls, letztlich ist, weiss Ich(a) nicht(k). Ich kann nur feststellen, dass es ein weiteres postulat meines philosophierens ist und die funktion der letztbegründung meiner weit zu erfüllen hat. (*abs.:013*)

Schopenhauer geht in der begründung seiner weltsicht genau den einen schritt weiter, den Ich(a), konkretisiert in der wesensfrage der ontologen, als unerlaubt ansehe. Indem er den "willen" mit dem kantischen ding an sich identifiziert, funktioniert er, im widerspruch zur erklärten absicht, den "willen" um zu einem transzendentalen seinsmoment. Durch die hintertür kehrt damit in die welt der individuen das sein wieder zurück, das Schopenhauer mit grosser geste durch das portal seiner philosophie hinausgeworfen hatte. Zur lösung des leidproblems muss er, nun unvermeidbar, auf die vorstellungen von heil und erlösung, zentrale kategorien jeder theologie, zurückgreifen. Alle bekannten heils- und erlösungssysteme lösen ihr problem immer in der weise, dass entweder das heils- und erlösungsbedürftige individuum als subjekt seiner selbst in seiner physischen existanz vernichtet oder die erhoffte erlösung in die transzendenz abgeschoben wird. Schopenhauer hat sich mit dem philosophem von der verneinung des willens für die erste alternative entschieden und damit seiner welt das sie tragende fundament entzogen. Entweder es gelten die relationen: individuum<-->welt, oder: subjekt<-->objekt, oder sie gelten nicht(l); ein drittes gibt es nicht. (*abs.:014*)

Im klaren gegensatz zu Schopenhauer ist für mich die aufhebung der relation: individuum<-->welt, nicht denkbar(m). Entweder Ich(a) bin und Ich(a) lebe aus meinem individuellen impuls, dann ist mit diesem faktum meine welt gesetzt und mit ihr das reale leiden als eines ihrer konstitutiven elemente, oder Ich(a) bin nicht, dann ist weder die welt noch das leiden existent. Davon ist strikt jener sachverhalt zu unterscheiden, wie das faktum meiner nicht-mehr-existenz als problem für die nachlebenden erscheint. Das ist aber deren problem. (*abs.:015*)

Schopenhauer hat, sein philosophieren auf den punkt gebracht, in der relation: individuum<-->welt(n), das individuum ausgestrichen. Das ist jedoch nur der eine aspekt des problems. Der andere aspekt ist die welt selbst, so wie sie gegenstand ist meines tätigseins als individuum und subjekt meiner selbst. Einerseits sind die gegenstände meiner welt das mir andere, an denen und durch die vermittelt Ich(a) mich als subjekt meiner selbst erfahre; andererseits verändere Ich(a) durch mein tätigsein zugleich die gegenstände meiner welt. Dieser prozess wachselseitiger veränderung ist für mich mein leben. (*abs.:016*)

Was dieses leben ist, das wissen die individuen als subjekte ihrer selbst, vermittelt durch begriffe, in den mythen und theorien, die sie erfanden und immer wieder erfinden. Soweit das historische gedächtnis zurückreicht, haben die menschen sich immer wieder von neuem bemüht, das verfügbare instrumentarium ihrem zweck, die NATUR(f) sich gefügig zu machen, anzupassen. Dieser prozess unablässiger anpassung wird allgemein als aufklärung bezeichnet. Gingen alle bisherigen theorien über die aufklärung von der these aus, dass die aufklärung das synonym für fortschritt in der beherrschung der NATUR(f) durch den menschen ist, so behauptet Th.W.Adorno, dass genau dieser prozess der fortschreitenden beherrschung der NATUR(f) heute in die entfesselung der NATUR(f) eingemündet ist und die angst der menschen potenziert hat. Die menschen haben durch wissenschaft und technik ihre natürliche lebensgrundlage bereits soweit verändert, dass zumindest die möglichkeit einer selbstvernichtung der menschheit als einer biologischen gattung nicht mehr ausgeschlossen erscheint. Das ziel der kritik Adornos an der gegenwärtigen gesellschaftlichen praxis ist, den prozess rastloser selbstzerstörung aufzuhalten und umzuwenden hin auf das ziel ursprünglicher aufklärung, die befreiung des individuums vom realen leid. (*abs.:017*)

Der intention nach hält Adorno am begriff des individuums als subjekt seiner selbst fest. Das denken, in dem das individuum seine selbsterfahrung konkretisiert, definiert Adorno als einen identifikationsakt, der die heterogenen elemente zu einer welt zusammenzwingt. Alles, was das individuum in seinem denken ergreift, macht es sich gleich; es nimmt die gegenstände seiner welt in besitz, und es kann nicht ertragen, dass sich diesem anspruch auch nur das geringste entzieht. Das individuum will - das ist seine welt - der herr der NATUR(f) sein und diese nach seinen vorstellungen ummodeln. Das moment der identifikation ist folglich die notwendige voraussetzung für die existenz des individuums als subjekt seiner selbst. (*abs.:018*)

In seiner theorie einer negativen dialektik zielt Adorno jedoch nicht auf die beseitigung des moments der identifikation ab, sondern sein ziel ist es, als rettung vorm unheil, die richtung des denkens zu ändern. Nicht mehr das identifizieren und gleichmachen des heterogenen und ungleichen soll das telos des veränderten denkens sein, sondern das festhalten und aufbewahren des anderen als das nicht-identische. Anders als das identifizierende denken, das immer nur in bildern konkret sein kann, ist ein solches denken bilderlos. Es ist, im bild der konvergenz, dem theologischen bilderverbot gleich. Der preis, den das individuum als subjekt seiner selbst dafür bezahlen muss, ist hoch. Das denken, das die gegenstände der welt positiv so und nicht anders nicht mehr erfasst, kann dem individuum als subjekt seiner selbst die eigene welt nicht mehr sichern, und mit dem verlust seiner welt muss es sich selbst verlieren. Wie bei Schopenhauer ist die relation: individuum<-->welt, zerbrochen und beide momente sind spurenlos in das zurückgefallen, das Ich mit dem zeichen: NATUR, kennzeichne(o). Adornos theorie einer negativen dialektik bricht nicht das grauen der rastlos sich selbst zerstörenden aufklärung, sondern überlässt die entfesselte aufklärung namenlos sich selbst. (*abs.:019*)

Schopenhauer und Adorno kommen, wenn auch auf sehr verschiedenen wegen
zum gleichen resultat: die theoretische vernichtung des individuums als subjekt seiner selbst, vorgestellt als erlösung und befreiung das individuums vom realen leid seiner welt. Als das bürgerliche subjekt der moderne muss sich das individuum nur selbst aus dem sumpf des realen leids in das ersehnte heil ziehen, indem es sich selbst ausstreicht. (*abs.:020*)
 

III. eine bemerkung zum anthropofugalen denken

Für das philosophieren der menschen heute sind diese philosopheme ambivalent. Ich stelle fest, dass es derzeit mode ist, philosophische systeme zu rekonstruieren, in denen der mensch - das untier - die rolle des bösewichts zu spielen hat und folglich, zwecks rettung der schöpfung tunlichst zu vernichten ist. Einen aparten namen hat diese mode auch: anthropofugales denken - das individuum als subjekt seiner selbst flüchtet vor sich selbst. Die zeitanalysen der anthropofugalen denker(p) sind faszinierend und narkotisierend zugleich und manch ein requisit ihrer potpourris entstammt dem fundus von Schopenhauer und Adorno. Diese analysen sind ein bequemes stichwortreservoir für jedes interesse, das es versteht, sich zu camouflieren. Sie sind vorzügliche instrumente in der hand von menschen, deren denken Ich(a) mit dem terminus: faschistisch, kennzeichne, dessen gegenstand ein politisch umstrittener begriff ist(q). (*abs.:021*)

Ich sage nicht, dass das anthropofugale denken und diesem denken nahestehende philosopheme wie die von Schopenhauer und Adorno "faschistisch" sind - das wären behauptungen, die historisch nachweisbar falsch und moralisch eine unverfrorenheit ohnegleichen sind - sondern Ich(a) sage, dass diese philosopheme für jedes faschistische interesse ausbeutbar sind, wenn deren ausbeutung dem faschistischen interesse nützlich und zweckmässig erscheint. Mangels eines sinn- und einheitsstiftenden prinzips, theologisch gesprochen eines unbedingt geglaubten gottes, säkular formuliert eines individuums, das sich seiner selbst sicher und darum für seine welt verantwortlich ist, mangels eines solchen prinzips sind die philosopheme des anthropofugalen denkens nur unverbundene, vagabundierende elemente eines systems, die jeder nach seinem interesse beliebig im dunst des gerade gesellschaftlich approbierten miteinander kombinieren kann, und jedermann ist es, weil methodisch nicht angreifbar, erlaubt, sich seiner verantwortung gegen den anderen, den genossen, zu entziehen, indem er sich auf die ausgebeuteten philosopheme beruft. (*abs.:022*)

Das ist der grund, und hier darf Ich(a) nur für mich selbst sprechen, warum Ich(a) von der idee eines individuums als subjekt seiner selbst nicht ablassen kann und mit dieser idee das faktum des realen leids in der welt anerkennen muss, auch dann, wenn dieses leid längst die grenzen des erträglichen in qualität und quantität überschritten hat. Mein konzept einer humanen welt zielt daher nicht auf die beseitigung des realen leids ab, sondern auf die gestaltung eines lebens, das jeder als glück erfahren kann und zu diesem glück gehört auch der schmerz als konstitutives moment. Die entfaltung eines solchen konzepts aber ist ein neues thema. (*abs.:023*)
 <--//


*anmerkungen zum text:

(1) auf die kennzeichnung der auslassungen und umstellungen habe Ich verzichtet; fragen der philologie sind hier nachrangig. <--//
(2) A.Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. §1 (Zürcher Ausgabe, Zürich 1977, Bd.1 p.29) <--//
(3) ebd. §18 (p.143) <--//
(4)  ebd. §21 (p.155) <--//
(5) ebd. §68 (p.491) <--//
(6) M.Horkheimer/Th.W.Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main 1969, p.1 (oder: Theodor W.Adorno: Gesammelte Schriften. Bd.3. 1969, p.11) <--//
(7) ebd. p.19 (p.29) <--//
(8) ebd. p.22 (p.32) <--//
(9) Th.W.Adorno, Negative Dialektik. 2.Aufl. Frankfurt/M 1967, p.15 (oder: Theodor W.Adorno: Gesammelte Schriften. Bd.6. 1970, p.17) <--//
(10) ebd. p.19 (p.21) <--//
(11) ebd. p.25 (p.27) <--//
(12) ebd. p.205 (p.207) <--//
*Anhang: <--//

*editorische bemerkungen
 

1988/2003. Text des vortrags, gehalten am 25.05.1988 auf dem internationalen Schopenhauerkongress, Hamburg, 24.-27.05.1988.

Aus mir nicht bekannten gründen war der text in dem von Wolfgang Schirmacher verantworteten Schopenhauer-Jahrbuch nicht publiziert worden. Der text ist somit eine erstveröffentlichung.

Ist es zweckmässig, einen liegengebliebenen text jahre später hervorzukramen und dem publikum zuzumuten, das mit texten zugeschüttet wird? Ich denke, dass zwei argumente dies rechtfertigen können.

Das erste argument ist schlicht historisch motiviert. Die publikation erfolgt im rahmen des auf lange frist geplanten projekts: die bibliographie meiner schriften. Die homepage ist meine plattform, auf der Ich unzensiert von den ökonomischen interessen der verleger die gedanken der öffentlichkeit vorlegen werde, die Ich für richtig halte. Wer sich damit auseinandersetzen will, der soll es tun können, wer nicht, dem steht es frei, sich anderem zuzuwenden.

Das zweite argument ist sachlich motiviert. Jeder philosophische gedanke, der mehr sein soll als ein in der laune des moments hingeworfener aphorismus, wird von seinem autor über einen langen zeitraum entwickelt. In diesem prozess ist jeder text ein baustein, ohne den das werk niemals zustande käme. Es ist ein zutreffender einwand, dass der text, sollte Ich ihn heute komponieren, eine andere form haben müsste, damit wäre aber auch ein aspekt ausgeblendet worden, der für die beurteilung eines philosophischen gedankens in seinem weltbezug nicht unterschätzt werden sollte. Das ist die entwicklung des gedankens im prozess seines entstehens. Sowohl der gedanke in seiner entwicklung als auch die reflexion seiner wahrnehmung im moment der gegenwart unterliegen der zeiterfahrung des ich, und diese erfahrung spiegelt sich in jedem text, sei dies nun ein historischer oder ein aktueller text.

Der text von 1988 ist geringsfügig stilistisch überarbeitet worden, die orthographie habe Ich, soweit die sache nicht unmittelbar berührt ist, meinem heutigen gebrauch angepasst. Jede änderung der textgestalt, die auch den philosophischen gedanken berührt, ist in den anmerkungen zur publikation dokumentiert. Eine erweiterung sind die erläuterungen zu meiner terminologie, soweit diese in der zeit sich gewandelt hat. Dies halte Ich für geboten, weil unter dem identischen zeichen andere inhalte verdeckt werden. Dies gilt insbesondere für das zeichen: NATUR.
 <--//


*anmerkungen zur publikation:

a) die orthographie des terminus: ich, habe Ich meinem gültigen gebrauch angepasst. Den terminus: Ich, verwende Ich immer dann, wenn Ich es selbst bin, der spricht. <--//

b) individuum der NATUR. Den terminus habe Ich so stehen lassen. In weiteren fällen habe Ich den alten terminus: NATUR, unverändert stehen gelassen, auch wenn das zu gewissen irritationen führen kann, aber die historische textgestalt erschien mir bedeutungsvoller zu sein als seine anpassung an meinen heutigen gebrauch.
Ich unterscheide strikt zwischen dem, was Ich mit dem terminus: natur, kennzeichne und dem, wofür Ich die formel gebrauche: das, was Ich mit dem zeichen: NATUR, kennzeichne. Den terminus: natur, verwende Ich für die phänomene der materie, gemeinhin das, was in der tradition mit dem ausdruck: die Natur, gekennzeichnet wird. Das zeichen: NATUR, verwende Ich nur für das, was Ich als das andere denken muss, das jenseits der grenze der welt sein muss, um einen gültigen begriff von welt formulieren zu können. Darüber, was das ist, was Ich mit dem zeichen: NATUR, belege, kann Ich nichts sagen, und wenn Ich etwas darüber sage, dann kann diese rede immer nur ein teil meiner welt sein, niemals aber das, worauf das zeichen: NATUR, der intention nach zielen muss. Diese strikte trennung war mir 1988 erst im ansatz klar gewesen und die differenz versuchte Ich damit anzudeuten, dass Ich von meiner natur, die meiner subjektivität entzogen ist, in einer besonderen weise rede, darum die versalien: NATUR. <--//            zurück nach f)
c) den terminus: induktion, stehen gelassen; heute formuliere Ich dafür: dem modell des regressus in infinitum. <--//

d) dokumentation: Erstens ist jedes individuum teil der NATUR. <--//

e) dokumentation: und dann gibt es noch objekte, die meiner vereinnahme widerborstig sich entziehen und zu einem dauernden stachel für meine weiteren anstrengungen werden <--//

f) NATUR. siehe meine erläuterung unter b)   <--//

g) dokumentation: ... mit den zeichen "gott", "sein" oder einem sonstigen "mana" zu markieren pflegen.  <--//

h) dokumentation: -so mein theorem-   <--//

i) dokumentation: ..., verwende ich für diesen bereich das zeichen NATUR. <--//

j) dokumentation: Als individuum ist mir ein phänomen zu eigen, durch das vermittelt ich mich zuerst als ein individuum erfahren und dann als subjekt meiner selbst bilden kann.  <--//

k) dokumentation: Schopenhauer bezeichnet dieses phänomen als "wille"; ich verwende dafür den terminus "individueller impuls". Was dieses phänomen "individueller impuls" letztlich ist, weiss ich nicht.
 <--//

l) dokumentation: Entweder es gilt die relation individuum - welt, subjekt - objekt, oder sie gilt nicht;
 <--//

m) dokumentation: Im klaren gegensatz zu Schopenhauer ist für mich die aufhebung der relation individuum - welt nicht denkbar. <--//

n) dokumentation: Schopenhauer hat, sein philosophieren auf den punkt gebracht, in der relation individuum - welt das individuum ausgestrichen. <--//

o) dokumentation: Wie bei Schopenhauer ist die relation individuum - welt zerbrochen und beide momente sind spurenlos in die NATUR zurückgefallen. <--//

p) das denken der anthropofugalen denker ist eine mode, die in der historia wellenmässig immer wiederkehrt; damals, in den achtziger jahren, war es Ulrich Horstmann, der mit zwei kleinen büchern "über ein angeschwärztes Gefühl" publizistische wellen schlug, die inzwischen sich verlaufen haben. Siehe: Ulrich Horstmann: Das Untier. Konturen einer Philosophie der Weltflucht. Wien-Berlin 1983. Ders.: Der lange Schatten der Melancholie. Versuch über ein angeschwärztes Gefühl. Essen 1985.
 <--//

q) dokumentation: deren denken ich mit dem politisch umstrittenen begriff "faschistisch" kennzeichnen muss. <--//

finis
<--//

stand: 06.10.11.  //   eingestellt: 03.07.01.

zurück/übersicht  //
zurück/bibliographie  //
zurück/bibliographie/verzeichnis