TEXTSAMMLUNG
die meinung des bürgers
ausgabe: mdb/(33)08/23 / august/2023  (blieb stehen bis 12/2023)

Das fragile wahlrecht.
Anmerkung zur reform des aktuellen bundestagswahlgesetzes und ein vorschlag für ein besseres gesetz.

    Das wahlrecht ist in der demokratie ein politisches recht, das im netz der interessen immer umstritten sein wird. Mit dem wahlgesetz, der spiegel der verfolgten interessen, stellen alle, die es betrifft, die machtfrage im staat(a). Das fundament des demokratischen wahlrechts ist die idee, dass jeder bürger des staates mit seiner wahlstimme teil des politischen prozesses ist. Wie aber soll dieses teilhaberecht ausgestaltet sein soll? Mit der gestellten frage ist der streit geöffnet(b). Das problem ist nicht der streit um eine akzeptable lösung der machtfrage für alle, die es betrifft, das problem ist, dass jede machthabende partei in staat und gesellschaft versucht, die regelung durchzusetzen, die den eigenen machterwerb befördert und den machterhalt zu lasten der konkurrenten sichert.

    Das wahlgesetz zum Deutschen Bundestag ist im juni 2023 novelliert worden. Mit den änderungen im gesetz wird versucht, das problem der sogenannten überhangmandate zu beseitigen, um die zahl der abgeordneten wieder auf die von der verfassung vorgegebene zahl zurückzuführen(c). Das ist zumindest das versprechen der wahlrechtsreformer. Der mechanismus der gesetzgewordenen anpassungen ist aber schwer nachvollziehbar und die opposition zetert, dass das gesetz verfassungswidrig sei. Zwei verfassungsbeschwerden der opponierenden parteien sind anhängig. Ob diese klagen erfolg haben werden ist offen. -
Die kernpunkte des streits sind:
  1.     der wegfall der grundmandatsklausel, die regelt, dass drei direktmandate der partei den einzug der partei trotz verfehlens der 5%-klausel sichert.
  2.     direktgewählte abgeordnete sollen das mandat dann nicht erhalten, wenn der anteil ihrer partei an den listenmandaten ausgeschöpft ist.
Wie das Bundesverfassungsgericht urteilen wird, ist offen. Ich halte die angefochtenen änderungen des bisherigen wahlrechts für problematisch, weil sie die ungereimtheiten im geltenden recht nicht auflösen.

    Für ein grundgesetzkompatibles wahlgesetz mache Ich einen vorschlag, der einerseits die überhangsproblematik entschärft und andererseits der mandatverteilung zwischen frauen und männern realitätsgerechter ist(d).

Der vorschlag.
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(a)
das problem der wahlen ist irrelevant in einer diktatur, weil der diktator keine teilung der macht einräumen kann und den wettstreit um das bessere argument unterdrücken muss.

Schwieriger ist die auflösung des problems der machtteilhabe in den gesellschaften, in denen die dominante gruppe über alle machtoptionen verfügt(ständestaat). Zwischen den gruppen ist das wahlrecht irrelevant, weil die dominierende gruppe nach dem prinzip: divide et impera, die kontrolle über die gesellschaft ausübt. In der dominanten gruppe aber sind personen versammelt, die ihresgleichen sind und über unterscheidbare machtmittel verfügen. Als teil des gruppendynamischen prozesses der machtverteilung sind formen des wählens beobachtbar, mit denen die machtbesetzten funktionen besetzt werden. Dieser mechanismus der machtteilung ist regelgeleitet, fixiert in den regeln, die durch die reale verteilung der macht in der gruppe bestimmt ist.

Wenn alle in einer gesellschaft dem gesetz nach gleich sind(=demokratie), dann ist es essentiell, wenn die auswahl der mandatsträger nach bestimmten regeln organisiert ist, festgelegt im voraus. Diese regeln müssen von allen, die es betrifft, wurzelnd in der autonomie des wählers, akzeptiert sein.   (a)<==//   
(b)
das ideale wahlgesetz gibt es nicht. Es ist eine beobachtung, dass jeder staat für sich die regeln der wahl statuiert hat(01), festlegungen, die einerseits das resultat der faktischen machtverteilung in der gesellschaft sind und andererseits den zweck haben, macht zu erweben und/oder macht zu behaupten. Die vielgestaltigkeit der machtverteilungen ist gespiegelt in der ausgestaltung des wahlrechts. In benennbaren fällen hat das wahlgesetz die funktion, die freie wahl des bürgers zu unterbinden.
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(01)
das wahlgesetz sollte das regelwerk sein, mit dem objektiv der "wille" des souveräns, des (wahl)volks, ermittelt wird, de facto sind die wahlgesetze nur ein werkzeug, mit dem dieser wille manipuliert wird.   (b)<==// 
(c)
das problem der überhangmandate ist das resultat der verknüpfung von direktwahl der wahlkreisabgeordneten mit der verhältniswahl der listenkandidaten(01). Solange es drei parteien in der BRD gegeben hatte, konnte das rechnerische problem vernachlässigt werden. Seitdem aber die beiden grossen machtblöcke im wähleranteil unter 30% geschrumpft sind und kleinere parteien in relevanter zahl die 5%-klausel überwinden können, kann das rechnerische problem der überhangmandate nicht mehr ignoriert werden. Das missverhältnis zwischen direktmandat und listenmandat muss wieder ausgeglichen werden.
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(01)
weder das mehrheitswahlrecht noch das verhältniswahlrecht können den wählerwillen im parlament 1:1 abbilden. In der zahl der mit mehrheit gewählten abgeordneten verneint das mehrheitswahlrecht die wählerschaft, die in der minderheit geblieben ist. Das verhältniswahlrecht bildet in grenzen den willen des wahlvolks zwar mathematisch korrekt ab, nicht aber den politischen prozesses in seiner dynamik, der von personen getragen ist. Die kombination von mehrheits- und verhältniswahlrecht funktioniert nur dann, wenn das je andere system die korrekturfunktion ausfüllen kann. In der BRD hatte das funktioniert, solange zwei starke parteien sich in der macht abwechselten.   (c)<==// 
(d)
die angleichung der biologischen verteilung von mann und frau in den institutionen der gesellschaft und ihre faktische verteilung im politischen prozess ist ein problem der moderne. Zur diskussion der "quote" andernorts en detail(01).
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(01)
fragment des monats: Die quote: 40%, - ein spielball im nicht endenden streit. (014) fdm/22.014/ 02/2022.   (d)<==//     
(e)
das argument ist fadenscheinig und falsch, dass der wähler überfordert sei, wenn er in der wahlkabine mit den drei stimmen hantieren müsse. In der BRD sind auf landes- und kommunalebene regelungen wirksam, die komplexer ausgestaltet sind, so das panaschieren und kumulieren.   (e)<==// 
(f)
mit der stichwahl dürfte die problematik der überhangmandate wirksam gemildert sein, weil in der stichwahl neue koalitionen im wahlvolk möglich sind, die die dominanz der stärksten liste kontrollierbar halten. Nach dem geltenden recht kann im wahlkreis ein kandidat mit 20% der wahlstimmen die mehrheit repräsentieren und das mandat erlangen, dann, wenn alle anderen mitbewerber unter dem wert von 20 geblieben sind. In diesem mechanismus ist das phänomen der überhangmandate verortet.   (f)<==// 
(g)
das instrument: bundesliste, steht in keinem gegensatz zur gliederung der BRD in länder. In der Weimarer Republik waren alle wähler in einem wahlkreis vereinigt und nach der zahl der abgegebenen stimmen wurde auf 30000 wähler ein reichstagsmandat vergeben. Die bundesliste ist nur ein technisches hilfsmittel, um die verteilung der listenmandate auf bundesebene sicherzustellen. Das überhangmandat der partei in Bayern wird mit dem "schlechten" ergebnis der partei in Mecklenburg verrechnet und ist im statistischen mittelwert verschwunden.   (g)<==// 
(h)
das ist eine pragmatische regel, weil die gesellschaft dynamisch ist. Es ist zweckmässig, die tradition eines wahlkreises zu achten, aber die tradition ist gegenüber der statistischen zahl der wähler im wahlkreis ein nachrangiges argument, weil das problem der überlappung eines wahlkreises in ein anderes bundesland/verwaltungsbezirk durch die bundesliste neutralisiert ist.   (h)<==// 
finis
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stand: 24.01.01.
eingestellt: 23.08.01.

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