Das fragile wahlrecht.
Anmerkung zur reform des aktuellen bundestagswahlgesetzes und ein
vorschlag für ein besseres gesetz.
Das wahlrecht ist in der demokratie ein politisches recht, das im netz
der interessen immer umstritten sein wird. Mit dem wahlgesetz, der
spiegel der verfolgten interessen, stellen alle, die es betrifft, die
machtfrage im staat
(a). Das fundament des demokratischen wahlrechts ist
die idee, dass jeder bürger des staates mit seiner wahlstimme teil des
politischen prozesses ist. Wie aber soll dieses teilhaberecht
ausgestaltet sein soll? Mit der gestellten frage ist der streit
geöffnet
(b). Das problem ist nicht der streit um eine akzeptable lösung
der machtfrage für alle, die es betrifft, das problem ist, dass jede
machthabende partei in staat und gesellschaft versucht, die regelung
durchzusetzen, die den eigenen machterwerb befördert und den
machterhalt zu lasten der konkurrenten sichert.
Das wahlgesetz zum Deutschen Bundestag ist im juni 2023 novelliert
worden. Mit den änderungen im gesetz wird versucht, das problem der
sogenannten überhangmandate zu beseitigen, um die zahl der abgeordneten
wieder auf die von der verfassung vorgegebene zahl zurückzuführen
(c).
Das ist zumindest das versprechen der wahlrechtsreformer. Der
mechanismus der gesetzgewordenen anpassungen ist aber schwer
nachvollziehbar und die opposition zetert, dass das gesetz
verfassungswidrig sei. Zwei verfassungsbeschwerden der opponierenden
parteien sind anhängig. Ob diese klagen erfolg haben werden ist offen. -
Die kernpunkte des streits sind:
-
der wegfall der grundmandatsklausel, die regelt,
dass drei direktmandate der partei den einzug der partei trotz
verfehlens der 5%-klausel sichert.
-
direktgewählte abgeordnete sollen das mandat dann
nicht erhalten, wenn der anteil ihrer partei an den listenmandaten
ausgeschöpft ist.
Wie das Bundesverfassungsgericht urteilen wird, ist offen. Ich halte
die angefochtenen änderungen des bisherigen wahlrechts für
problematisch, weil sie die ungereimtheiten im geltenden recht nicht
auflösen.
Für ein grundgesetzkompatibles wahlgesetz mache Ich einen vorschlag,
der einerseits die überhangsproblematik entschärft und andererseits der
mandatverteilung zwischen frauen und männern realitätsgerechter ist
(d).
Der vorschlag.
- 1.1 Die verknüpfung von direktwahl und
verhältniswahl(erst-/zweitstimme) ist einerseits zwar vernünftig,
andererseits aber sollte sie mit einer dritten stimme erweitert werden,
mit der die geschlechterdifferenz in den institutionen des staates im
rahmen des rechnerisch möglichen angeglichen wird.
-
//==> jeder wähler wählt mit der ersten stimme
eine frau als direktkandaditatin und mit der zweiten stimme einen mann
als direktkandidaten. Die beiden stimmen sind nicht interdependent.
-
//==> jeder wähler wählt wie bisher mit der
dritten stimme die liste einer partei(e).
-
1.2 gewählt mit der erst/zweitstimme ist der
kandidat, der die mehrheit der stimmen (50% + 1 stimme) erhalten hat.
Erreicht der kandidat diese mehrheit nicht, dann wird in einer
stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten die mehrheit
festgestellt. Mit dieser regelung, bestens erprobt, ist immer
sichergestellt, dass ein kandidat die mehrheit erreicht hat(f).
-
2.1 Der Bundestag soll 499/501 abgeordnete haben.
-
2.2 Die zahl der wahlkreise in der BRD wird auf 125
begrenzt. In jedem wahlkreis wird sowohl eine frau als auch ein mann
gewählt(=250mandate).
-
2.3 Die verbleibenden mandate(=249/251) werden über
die bundesliste verteilt(g). Der bundeswahlleiter erstellt in einem
verwaltungsakt die bundesliste nach den vorgaben der landeslisten in
strikter rangordnung der Bundesländer(alphabetisch).
-
2.4 Die parteien bestimmen, wie bisher, auf der
landesebene die reihenfolge der listenmandate, ergänzt durch die
bindende vorschrift, dass der mann/die frau abwechselnd gelistet sind.
-
//==> der 1.platz wird nach dem votum der partei
besetzt, entweder mit einem mann oder mit einer frau.
-
//==> die direktkandidaten der partei, mann
oder frau, sind auf den plätzen: 1 - n, zu verzeichnen, dann folgen die
kandidaten, die im wahlkreis nicht direkt kandidieren.
-
-
3.1 Das gesamte wahlgebiet der BRD wird in 125
wahlkreise eingeteilt. Jeder wahlkreis hat die gleiche anzahl an
wähler: alle wahlberechtigten der BRD zu einem bestimmten stichtag,
dividiert durch die zu vergebenden mandate(499/501). Die abweichung von
der statistischen zahl für ein mandat soll nicht grösser/kleiner sein
als 2-3%.
-
3.2 Das gebiet des wahlkreises muss geographisch
geschlossen sein und im geographischen zuschnitt der wahlkreise sollen
in der regel die grenzen der bundesländer und die grenzen der
verwaltungsbezirke beachtet werden. Diese grenzen können aber
überschritten werden, wenn anders die zahl der wähler eines wahlkreises
nicht gehalten werden kann(h).
-
3.3 Der zuschnitt der wahlkreise, verknüpft mit der
festlegung der zahl der wähler eines wahlkreis wird zu beginn jeder
legislaturperiode für die nächste wahl angepasst.
-
3.4 Die anpassung wird von einer kommission
vorgenommen, in der 5 unabhängige experten nach
statistisch/mathematischen kriterien entscheiden. Das
Bundesverwaltungsgericht bestätigt per beschluss die entscheidung der
kommission.
-
3.5 die mitglieder der kommission, die kein
politisches mandat ausüben dürfen, werden vom Bundespräsidenten/oder
dem Bundestagspräsidenten ausgewählt und ernannt. Die kommission
verhandelt öffentlich und hat alle im Bundestag vertretenen parteien
anzuhören. Die mitglieder der kommission entscheiden in namentlicher
abstimmung. Das votum der kommission ist nicht anfechtbar.
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(a)
das problem der wahlen ist irrelevant in einer diktatur, weil der
diktator keine teilung der macht einräumen kann und den wettstreit um
das bessere argument unterdrücken muss.
Schwieriger ist die auflösung des problems der machtteilhabe in den
gesellschaften, in denen die dominante gruppe über alle machtoptionen
verfügt(ständestaat). Zwischen den gruppen ist das wahlrecht
irrelevant, weil die dominierende gruppe nach dem prinzip: divide et
impera, die kontrolle über die gesellschaft ausübt. In der dominanten
gruppe aber sind personen versammelt, die ihresgleichen sind und über
unterscheidbare machtmittel verfügen. Als teil des gruppendynamischen
prozesses der machtverteilung sind formen des wählens beobachtbar, mit
denen die machtbesetzten funktionen besetzt werden. Dieser mechanismus
der machtteilung ist regelgeleitet, fixiert in den regeln, die durch
die reale verteilung der macht in der gruppe bestimmt ist.
Wenn alle in einer gesellschaft dem gesetz nach gleich
sind(=demokratie), dann ist es essentiell, wenn die auswahl der
mandatsträger nach bestimmten regeln organisiert ist, festgelegt im
voraus. Diese regeln müssen von allen, die es betrifft, wurzelnd in der
autonomie des wählers, akzeptiert sein.
(a)<==//
(b)
das ideale wahlgesetz gibt es nicht. Es ist eine beobachtung, dass
jeder staat für sich die regeln der wahl statuiert hat(01),
festlegungen, die einerseits das resultat der faktischen
machtverteilung in der gesellschaft sind und andererseits den zweck
haben, macht zu erweben und/oder macht zu behaupten. Die
vielgestaltigkeit der machtverteilungen ist gespiegelt in der
ausgestaltung des wahlrechts. In benennbaren fällen hat das wahlgesetz
die funktion, die freie wahl des bürgers zu unterbinden.
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(01)
das wahlgesetz sollte das regelwerk sein, mit dem objektiv der
"wille" des souveräns, des (wahl)volks, ermittelt wird, de facto sind
die wahlgesetze nur ein werkzeug, mit dem dieser wille manipuliert wird.
(b)<==//
(c)
das problem der überhangmandate ist das resultat der verknüpfung
von direktwahl der wahlkreisabgeordneten mit der verhältniswahl der
listenkandidaten(01). Solange es drei parteien in der BRD gegeben
hatte, konnte das rechnerische problem vernachlässigt werden. Seitdem
aber die beiden grossen machtblöcke im wähleranteil unter 30%
geschrumpft sind und kleinere parteien in relevanter zahl die
5%-klausel überwinden können, kann das rechnerische problem der
überhangmandate nicht mehr ignoriert werden. Das missverhältnis
zwischen direktmandat und listenmandat muss wieder ausgeglichen werden.
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(01)
weder das mehrheitswahlrecht noch das verhältniswahlrecht können
den wählerwillen im parlament 1:1 abbilden. In der zahl der mit
mehrheit gewählten abgeordneten verneint das mehrheitswahlrecht die
wählerschaft, die in der minderheit geblieben ist. Das
verhältniswahlrecht bildet in grenzen den willen des wahlvolks zwar
mathematisch korrekt ab, nicht aber den politischen prozesses in seiner
dynamik, der von personen getragen ist. Die kombination von mehrheits-
und verhältniswahlrecht funktioniert nur dann, wenn das je andere
system die korrekturfunktion ausfüllen kann. In der BRD hatte das
funktioniert, solange zwei starke parteien sich in der macht
abwechselten.
(c)<==//
(d)
die angleichung der biologischen verteilung von mann und frau in
den institutionen der gesellschaft und ihre faktische verteilung im
politischen prozess ist ein problem der moderne. Zur diskussion der
"quote" andernorts en detail(01).
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(01)
(e)
das argument ist fadenscheinig und falsch, dass der wähler
überfordert sei, wenn er in der wahlkabine mit den drei stimmen
hantieren müsse. In der BRD sind auf landes- und kommunalebene
regelungen wirksam, die komplexer ausgestaltet sind, so das
panaschieren und kumulieren.
(e)<==//
(f)
mit der stichwahl dürfte die problematik der überhangmandate
wirksam gemildert sein, weil in der stichwahl neue koalitionen im
wahlvolk möglich sind, die die dominanz der stärksten liste
kontrollierbar halten. Nach dem geltenden recht kann im wahlkreis ein
kandidat mit 20% der wahlstimmen die mehrheit repräsentieren und das
mandat erlangen, dann, wenn alle anderen mitbewerber unter dem wert von
20 geblieben sind. In diesem mechanismus ist das phänomen der
überhangmandate verortet.
(f)<==//
(g)
das instrument: bundesliste, steht in keinem gegensatz zur
gliederung der BRD in länder. In der Weimarer Republik waren alle
wähler in einem wahlkreis vereinigt und nach der zahl der abgegebenen
stimmen wurde auf 30000 wähler ein reichstagsmandat vergeben. Die
bundesliste ist nur ein technisches hilfsmittel, um die verteilung der
listenmandate auf bundesebene sicherzustellen. Das überhangmandat der
partei in Bayern wird mit dem "schlechten" ergebnis der partei in
Mecklenburg verrechnet und ist im statistischen mittelwert
verschwunden.
(g)<==//
(h)
das ist eine pragmatische regel, weil die gesellschaft dynamisch
ist. Es ist zweckmässig, die tradition eines wahlkreises zu achten,
aber die tradition ist gegenüber der statistischen zahl der wähler im
wahlkreis ein nachrangiges argument, weil das problem der überlappung
eines wahlkreises in ein anderes bundesland/verwaltungsbezirk durch die
bundesliste neutralisiert ist.
(h)<==//
finis
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